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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 15 (1. Maiheft 1903)
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Göhler, Georg: Musikpflege und Tagespresse
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Steinhausen, Heinrich: Nochmals von den Begeisterungsreden
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0153

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der Zunahme des allgemeinen Verkehrs und mit der Zerstörung indivi-
dueller Lebensformen überall hin zugänglich gcworden, ja geflissentlich
aufgedrängtl Damit sind Unzählige aus ihrem gewohnten, sichern
Lebensgefühl hinausgeworfen, an ihrem ursprünglichen Geistesbesitz irre
gemacht und auf das uferlose Meer schwankender Reflexionen gcschleudert,
auf dem sie ohne Steuer und Kompas umhertreiben, bis das Ungefähr
einmal ein Landen gestattet oder der Abgrund sich auftut.

Dennoch, wenn wir mit Trauer nnd Sorge sehn, wie alle gehäuftc
Kulturarbeit und ihre nach allen Seiten hin verbreiteten Erwerbungen
so häufig da versagen, wo sie vernünftiger Weise allein ihren Zweck finden:
in der Erhöhung, Veredlung und Ausgestaltung des seiner geistig-sittlichen
Bestimmung entsprechenden Menschentums: so rufen wir immer wieder
nach mehr Schule, nach neuen Veranstaltungen für Unterricht, Wissens-
mitteilung, Kenntniserweiterung und trösten uns, das immer besser und
reichlicher geschulte Geschlecht der Zukunft werde schon auch die besseren
Früchte genießen, die uns die Gegenwart schuldig bleibt.

Statt dessen nimmt die Ueüerbildung und Verbildung unaufhaltsam
zu und mitten in unsrer verfeinerten jKultur wüchst eine ihr Hohn
sprechende Barbarei der Gesinnung und der Gesittung cmpor. Vielleicht
nur in entlegenen Gebirgs- und Heidegegenden unsres Vaterlandes hat
sich noch ursprüngliche, im Boden wurzelnde, ungebrochene Eigenart des
Denkens und Tuns erhalten, aber auch hier täglich stärkcr von der
Ueberslutung fremder, zwar vielleicht äußerlich glänzender, aber das
innere wie das äußere Leben beirrender Kulturelemente bedroht.

Wie wenig kann es daher Wunder nehmen,daß unter solchenUmständen
besonders auch das Gut Schaden leidet, in dem der Aufgang wie der
Niedergang des Geisteslebens zu allernüchst sich verkörpert: das Sprachgut.
Schon beeilen sich die Germanisten im Gefühl dcr letzten Stunde, unsre
Mundarten, ehe sie völlig verwildern und verschwinden, schriftlich fest-
zustellen und — einzusargen, und, wollten heute die Gebrüder Grimm
den Schatz der deutschen Mürchcn sammeln, so kämen sie zu spät. Selbst
die trauten, oft aus grauer Vorzeit erhaltenen Wiegenlieder sind verstummt
oder verschwinden mehr und mehr, und wo finden sich noch Mütter, die
ihre Kinder jene Reime und Sprüche lehren, die dann unter Spielen
auf Anger und in Feld und Wald widerhallten! Auch das Volkslied,
der reiche Quell Phantasie und Gefühl belebender Anschauungen, ist von
der modernen Bildung den Herzen und dcn Lippen genommen oder dem
Veratmen nahe: dafür üben Schulen und Gesangvereine ihre Lieder ein,
cine Saat in den Wind gesät und Gassenhauer und textlicher wie musika-
lischer Blödsinn aus der Großstadt treten an ihre Stelle.

Zugleich verarmt auch die Sprache; ihre Lebendigkeit, Kraft und
Anschaulichkeit weicht einem gleichförmigen allgemeinen Muster, wie es
im gedruckten Worte vorliegt, aber von dem gesprochenen sich weit ent-
sernt hat. Oder kann sich eine volkstümliche Ausdrucksweise da er-
halten, wo das Auge täglich nnser Zeitungsdeutsch vor sich hat? Und
fällt es nicht jedem, dessen Ohr nicht bloß dcr Buchsprache offen gewesen
ist, auf, wie in den letzten Jahrzehnten so viele in ihrer Bildlichkeit
treffende, überraschende, witzige, wohl auch derbe Redcwendungen des
täglichen Umgangs ausgestorben sind, die man freilich gedruckt nicht zu
lesen bekommt?

zec»

Rnnstwart
 
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