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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0654

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Michelangelo. Jch willige in die Ehre . . . Jch nehme den
Liebcsdienst an ... Mir scheint, heute darf ich ihn wollen. Jch
will Euch ein letztes Wort sagen . . .

Die Marchesa. Und was, mein Freund?

Michelangelo. Euch, die ich so liebe, Euch segne ich aus
meines Herzens Grunde . . . Lebt wohl! (Er küßt der Marchesa die
Hand und entfernt sich.)

RunclsckLU.

HUgenieineres.

G Von der Naivität.

Künstlerische oder dichterische Nairn-
tät ergibt sich, wenn einer einem Ziele
so direkt auf dem kürzesten Weg ent-
gegenstrebt, daß er die gewichtigsten
Warnworte, welche der Verstand oder
der Geschmack gegen diese Fahrt ruft,
nicht beachtet. Die Nichtbeachtung
kann entweder daher rühren, datz er
die Bedenken einfach nicht vernimmt,
etwa weil er dazu nicht geistig hoch
genug steht oder nicht gebildet genug
ist. Oder im Gegenteil daher, datz er
sie zwar gar wohl vernimmt, auch
ihr Gewicht stark verspürt, allein aus
überlegener Kunsteinsicht und über-
gewaltiger Jnspiration die Uebelstände
mit in Kauf nimmt, um das Ziel zu
erreichen. Jenes ist die kindliche, pri-
mitive Naivität wie sie stch z. B. im
Volkslied offenbart, diese die Naivität
des Genies. Larl Spittcler.

Oiterarur.

G Romane des Auslandes.
(Wilde, Gorki, Zola.)

Von Oskar Wilde, dem Verfasser
der „Salome", liegt der Roman »Das
Bildnis des Dorian Gray" in neuer
Uebersetzung von Paul Greve vor
(Minden i/W. Bruns. 2.50 Mk.) Das
»Hauptwerk^ des Dichters, sagt Greve;
ohne Frage ist es der bedeutendste
Roman, der seit langem aus England
zu uns gekommen ist. Ein junger,
überaus schöner Mensch, Dorian Grey,
wird von seinem Freunde meisterhaft
gemalt und erhält das Bildnis zum
Geschenk. Unter dem Einslusse eines
anderen Freundes, sozusagen einer

verkörperten Moral der Gescllschaft,
einer verführerischen „woral iusauit^"
beginnt Dorian seine Jugend zu ge-
nietzen, und er entwickelt sich binnen
kurzem zu einem Artisten des selbsti-
schen Genusses um jeden Preis.
Aeußerlich von schier unverwelklicher
Jugendschöne, verhühlicht er sich so
innerlich Zug um Zug, und das Merk-
würdige ist, daß sein Bildnis ihm diese
Wandlung getreu wiederspiegelt, getreu
bis auf die blutige Hand, mit der er
eines Tages den Maler, der zu warnen
kani, erstochcn hat. Als Dorian am
Ende das anklügerische, das andere
Jch vernichten will, ersticht er sich selbst.

Es handelt sich also ersichtlich um
ein stark symbolistisch verfärbtes
Gleichnis. Doch ist viel zu viel innere
Wirklichkeit, zwingendes inneres Er-
leben in diesen sprunghaften und doch
logischzusammenhängendenVorgängen,
als daß man sie kurzerhand als krank-
hafte Phantastik ablehnen könnte. Das
Sprunghafte üußert sich nicht nur im
willkürlich unterbrochenen Verlauf der
Charaklerentwickelung, sondern auch im
Stil. Die unmittelbare Darstellung
in direkter Rede überwiegt weitaus,
und ebenso unmittelbar dargestellt,
nicht beschrieben sind auch die Hallu-
zinationen des krankhaft verfeinerten
Dandys: sein Gewissen erscheint ihm
wie körperhaft im Spiogel seines Bild-
nisses. All die geheimen Qualen, die
aus den Perversitäten einer entnerven-
den Uoberkultur einem für sie vorbe-
stimmten Menschen von ursprünglich
guten Anlagen zerstörend erwachsen,
finden wir hier mit einer Offenheit

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