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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0655

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erzählt, die zu ehrlich ist, um nur
phantastisch, zu ernst, um zynisch zu
sein. Dazu erösfnet uns Wilde einen
Blick in das vornehme Milieu dieser
Dekadenz, das zwar mit geistreichen
Streiflichtern von des Dichters Gnaden
reichlich vergoldet, im Kerne aber doch
nicht verschönert ist. Ein Salonge-
spräch, wie etwa das folgende, scheint
mir mit seinen pointierten Paradoxen
und Epigrammen mehr alsnur amüsant,
es scheint mir auch typisch zu sein.
Man spricht vom englischen Vaterlande:

. . Und doch haben wir Grotzes
vollbracht."

„Großes wurde uns aufgeladen,
Gladys."

„Wir haben die Last getragen."

„Bis zur Börse."

Sie schüttelte den Kopf.

„Jch glaube an die Rasse," sagte sie.

„Sie zeigt das Ueberleben der Un-
verschümten."

„Sie entwickelt sich."

„Verfall reizt mich mehr."

„Und die Kunst?" fragte sie.

„Sie ist eine Krankheit."

„Die Liebe?"

„Eine Tüuschung."

„Religion?"

„Der elegante Ersatz für den Glau-
ben."

„Sie sind ein Skeptiker."

„Nie. Der Skeptizismus ist der
Anfang des Glaubens."

„Was sind Sie denn?"

„Erklüren heitzt einschränken."

„Gebcn Sie mir ein Stichwort."

„Die Fäden reitzen. Sie verlieren
stch im Labyrinth, Gladys . . ."

Das ist ganz der elegante, spitzige
Tonfall, wie ihn bei uns Wedekind zu
treffen weitz. Jmmerhin, hier spricht
neben dem Geist und der Grazie auch
eine Anschauung wirklichen Lebens.
Ueberschätzen werden gerade wir diese
ganze dekadente Kunst so leicht nicht,
und schlimm wäre es, wenn sie gar
populär würde. Unterschätzen werden
wir sie weit eher, und vollends wäre es

ungerecht, ihr jede Daseinsberechtigung
abzusprechcn. Es wäre ungerecht,
denn sie spiegelt ihr Teil vom Leben
auf ihre Art, und solange das an-
schaulich mit dem klaren Gewissen
von Gut und Böse geschieht, wie in
diesem Romane Wildes. solange ist
sie auch daseinsberechtigt. Uebrigens
hat der englische Poet geistige Ahnen
in Deutschland. E. T. A. Hoffmanns
kraftvoll schwüle Phantastik, Heinses
ästhetisch verfeinerte Erotik klingen in
seinem Buche wieder. Zum Propheten
aber eines neuen tzedonismus, der
Lehre von einer schrankenlosen Glück-
seligkeit nur durch die Sinne, wie
Heinse es ward, wird Wilde nicht,
und das gibt ihm immerhin mit der
ethischen auch die ästhetisch höhere
Stellung im Vergleiche mit jenem.

Das Problem des Untergangs
durch zersetzende Wirkungen der mo-
dernen Kultur behandelt auch Maxim
Gorki in seinem Romane „Die Drei"
(Leipzig, Diederichs, 2 Bde., 4 Mk.).
Nur datz bei ihm der Held ein reiner
Naturmensch ist und sich also ungleich
kräftiger, ungleich tragischer zur Wehre
setzen kann, als Wildes fast wider-
standslos hingegebener Dekadent. Von
drei zusammengewürfelten Kindern,
die rniteinander eine elende Jugend
unter dem Gesindel der Vorstadt ver-
leben, sondert sich Jlja, der zugewan-
derte Bauernjunge, der lebenskräftigste
von allen, allmählich ab und tritt als
gesunder und naiver Jnstinktmensch,
gleichsam als Naturprodukt in den
Kampf mit der stüdtischen Kultur. Er
geht Schritt für Schritt an ihr zu-
grunde. An dem, was gut wie an
dem, was schlecht sei, wird er irre,
weil er ringsum Ungerechtigkeit herr-
schen sieht. Er gerät ins Verbrechen,
in den halb unbewußten Mord hinein.
Reue empfindet er fürs erste nicht.
Ganz allmählich setzt ste ein und wird
so übermächtig zu beständig bohren-
dem Gewissen, datz er das Dasein
freiwillig aufgibt.

S22

Runftwart
 
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