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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 16 (2. Maiheft 1903)
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Ueber Kritik und Literaturgeschichte
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Ist Musik deutbar?
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0216

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einflussen, Dinge ins Leben hineinzutragen, die nicht naturgemäß
ans ihm erwachsen.

So gut ich keinen andern Menschen für mich essen, trinken und
lieben lassen kann, so gut kann auch kein anderes Volk für uns dichten
und malen, und wenn ich doch seine Dichtung und Malerei herüber--
nehme, so geschieht das nur, wenn ich durch sie mehr werden kann
als ich bin, mehr in meinem eigenen Geiste, durch Ausbildung in
meiner Natur schon liegender Eigenschaften — denn andcrs werden,
als ich bin, meine Natur von Grund aus verändern, will ich nicht
und kann ich zuletzt auch nicht. Vielleicht kann jede Nation von sich
sagen: Nichts Menschliches ist mir fremd, aber nicht, daß alle Na-
tionen Gleiches, daß sie auch Verschiedenes, Besonderes haben, daß
das Allgemeinmenschliche modifiziert ist, bestimmt ihren Wert. Und
das muß in der Literatur zum Ausdruck kommen, und die Kunst
muß das Besondere nicht verwischen, sondern eher potenzieren, und
ein Volk muß in jeder seiner poetischen Entwicklungen der Väter
Züge, sein Eigenstes und Bestes wiederfinden, sich daran „bilden"
können, nm sich selber tren zu bleiben — sonst hat die Kunstübung
überhaupt keinen Wert; denn daß irgend ein Volk nach tausend
Jahren Dichtungen eines untergegangenen Volkes liest, ist doch gewiß
kein Grund, unendlich viel blühendes Leben an eine Kunst hinzu-
geben. Das Nationale ist nicht Enge, das Nationale ist Kraft nnd
Tiefe. Und wenn die Kritik in nationalem Feuergeiste getauft ist,
dann wünscht sie Kraft und Tiefe und nicht etwa ein behagliches
Philisterium in der Kunst, mag dies auch immer noch dem „wohligen
Wälzen" im Sumpfe der Dekadence vorzuziehen sein.

Isl j^usik cleutban?

Der alte Streit um die Deutbarkeit der Mnsik will noch immer
nicht zur Ruhe kommen, und besonders in unserer, an rückschrittlichen
Erscheinungen so reichen Zeit tritt wieder das Bestreben hervor, alle
Erklärung musikalischer Kunstwerke, die mehr sein will denn eine Zer-
gliederung ihres Aufbaus, als ein lächerliches, zweckloses Beginnen
abzulehnen. Da kommt gerade zurecht ein Aufsatz Hermann
Kretzschmars, wohl der bedeutendsten musikalischen Autorität, die
wir Deutsche gegenwärtig haben, der neben allerhand „Anregungcn
zur Förderung musikalischer Hermeneutik" die Frage nach dcr Be-
rechtigung dieser Hermeneutik, d. h. Ausdcutung einer grundsätzlichcn
Erörterung unterzieht. Er steht in dem von Rudolf Schwartz heraus-
gegebenen „Jahrbuch der Musikbibliothek Peters", und wir dürfen
das Wesentlichste daraus unsern Lesern weitergeben.

Kretzschmar betont zunächst, daß die Hermeneutik in allen übrigen
Künsten sich unbestrittener Anerkennung erfreue. Wenn sie im Gegen-
satze hiezu von manchen Musikern bekämpft wird, so könne es dafür
nur zwei vernünftige Gründe geben: entweder die Musik braucht keine
Hermeneutik oder sie erlaubt keine.

„Die erste Annahme darf glatt abgewiesen werden. Der Musik
sind Hilfsmittel des Verständnisses, die über die Form hinausdringen,


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