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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 16 (2. Maiheft 1903)
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Ueber Kritik und Literaturgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0215

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rambisch, sondern Schritt für Schritt entwickelnd, durch reine und
klare Darstellung sür die Anschauung hervorzurufen, sie soll aus den
Eindrücken der Einzelwerke auch das Gesamtbild des Künstlers schaffen
können. Bei ihr wird der bloße Eindruck wahrhaftes Verständnis,
die kritische Untersuchung verliert ihrcn negativen Charakter und setzt
<illes einzelne in positive Züge um, die dann zusammengehen und
das Besondere einer künstlerischen Erscheinung, sei es eines Werkes
oder seines Schöpfers, im allgemeinen, natürlichen Rahmen deutlich
hervortreten lassen. Nirgends sticht nun das Urteil nackt hervor,
aber jede Einzelheit des geschaffenen Bildes beruht auf ihm, das
leere Raisonnement, der geistreiche Einfall sind ganz unmöglich ge-
worden, alles tritt wissenschaftlich sicher und bestimmt auf, wenn auch
Las Bewußtsein, daß doch nur eine Jndividualität eine andere spie-
gelt, natürlich nicht fehlt.

*

Dic Kunst ist und bleibt für die Kritik Leben im Leben, Kunst-
werk und Künstler sind für sie lebende Organismen, die nicht in ihre
Bestandteile aufzulösen, sondern trotz sorgfältiger Einzeluntersuchung
stets als Ganzes aufzufassen, als Ganzes für die Anschauung nachzu-
schaffen sind. Das im engern Sinn Historische dient der Kritik nur
zur Erkcnntnis, zur Vergleichung, ist aber nicht als Forschung End-
ziel; geschichtliche Entwicklung und geistige Bewegnng spiegeln sich in
der Kunst, aber diese bleibt etwas ganz Selbständiges, Dauerndes,
weil Konkretes und Organisches, nicht durch den menschlichen Geist
.„Abgezogenes".

*

Es ist menschlich, daß wir, um mehr „Hintergrund" zu haben,
unsere Person mit einer großen Sache identifizieren; wcnn wir aber
etwas sind, dann wachsen Person und Sache wirklich zusammen, und
es ist etwas Großes, daß dann die persönlichen „Eitelkeiten", alles
Egoistische mehr und mehr entfallcn, daß der Mensch zum furcht-
losen Kämpfer für die Sache wird.

Man mag sich drehn und wcnden, wie man will, es ist nun
-einmal nicht anders, der Faktor Nation, Rasse ist anf keinem Gebiete
Les Lebens auszuscheiden, auch nicht auf dem der Kunst und (Geistes-)
Wissenschaft, oder vielmehr erst recht nicht auf diesem. Wie das mensch-
liche Leben des Geschlechts an Jndividuen gebunden ist, nur in ihnen
hervortritt, so das Leben der Menschheit an Völkern; wir können
sie uns gar nicht wegdenken, sie sinds, möchte man sagen, in denen
das Wasser der Menschheit zu Wein wird.

-i-

Nationale Kritik denkt an das ganze Volk: Sie sieht in der
Literatur und zumal in der Poesie eine notwendige und eine dcr
höchsten Offenbarungen des Volksgeistes und will, daß so weite Kreise
wie möglich an ihnen teilnehmen, aber sie vergißt auch keinen Augen-
blick, daß die Literatur für das Leben da ist und nicht umgekehrt,
und es fällt ihr gar nicht ein, schon in jeder schreibenden Feder, wie
Hebbel einmal sagt, einen Gewinn für die Literatur zu erblicken und
Ler Literatur das Recht zuzugestehen, das Leben ungünstig zu be-

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2. Maiheft 1902
 
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