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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 16 (2. Maiheft 1903)
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Ueber Kritik und Literaturgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0214

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kritischen Verfahren. Beim künstlerischen Schaffen unterscheidet man
heute in der Regel drei Stadien (ohne zu übersehen, daß sie nicht
immer rein hervortreten): die Konzeption, die Reflexion, die Pro-
duktion. Konzeption ist die Empfängnis des Werkes, die mit einem
Bilde aus dem Stoffe meist plötzlich aufgehende künstlerische Jdee,
Reflexion die oft langdauernde geistige Arbeit, die der Künstler an
dem ihm nahegetretenen Stoffe, der nun mit persönlichem Gehalt
erfüllt wird, leistet, Produktion endlich das eigentliche Schaffen, die
Gebnrt, das mehr oder minder „unbewußte", d. h. unberechenbare,
unter innerem Zwang erfolgende wirkliche Entstehen des Kunstwerkes.
So kann und muß man auch bei der Kritik drei Stadien unter-
scheiden: die Aufnahme des Kunstwerkes, die der Konzeption, die
geistige Durchdringung, die der Reflexion, endlich die Reproduktion,
die der Produktion entspricht.

*

Auch der Haß ist in der Kritik wohlberechtigt, es gibt Persön-
lichkeiten und Erscheinungen, die ich hassen muß, denen ich, ob ich
sie nun begreife oder nicht, nur mit den schärfsten Waffen in der
Hand gegenübertreten kann. Aber persönliche Gehässigkeit darf dieser
Haß niemals werden, er muß offen und ehrlich sein und ehrlich
bleiben.

*

Kritik ist zunächst Verstandestätigkeit, es soll der Kritiker das
Kunstwerk, soweit es möglich ist, seinem Verstande und dann auch
dem anderer klar machen. Natürlich ist hier aber unter Verstand
nicht der sogenannte gesunde Menschenverstand, der niemals als Maß
des Kunstwerks, sondern nur sozusagen als ein Grenzhüter des ästhe-
tischen Reiches anzuerkennen ist, sondern der Kunstverstand zu ver-
stehen, der, dem echten Kritiker angeboren und auch beim echten Ge-
nießer au konä vorhanden, auf dem künstlerischen Anschauungsver-
mögen und auf ästhetischer Feinfühligkeit beruht.

*

Bei jeder Vergleichung, die fruchtbar sein soll, muß natürlich
ein tsrtium oomvarntionis vorhanden sein, und wenn man ästhetische
Gegenstände vergleicht, ,so muß das tertiuin eomparationis ein ästhe-
tisches sein — das ist etwas, was die Durchschnittskritiker und
Literaturforscher immer noch nicht recht begreifen. Um etwas be-
stimmter zu werden: Man kann zwei Gestalten zweier Dramen noch
nicht miteinander vergleichen, weil sie Menschen oder selbst weil sie
Könige sind, sie müssen als dramatische Charaktere miteinander ver-
wandt sein. Und selbst das genügt noch nicht immer: Auch als solche
müssen sie noch wieder in einer und derselben ästhetischen Sphäre
liegen, gewisse Jdiotismen aufweisen, die sie als aus verwandter dich-
terischer Jntention geflossen kennzeichnen, — wenn bei dcm Vergleich
etwas herauskommen soll.

Der Kritiker, auch der größte, bleibt Schriftsteller, selbst dann,
wenn er die Fähigkeit hat, wirkliche Charakteristiken zu entwerfen.
Dies zu tun, ist eben die Aufgabe der darstellenden Kritik: sie soll
imstande sein, den Gesamteindruck eines Kunstwerkes nicht dithy-

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