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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 13 (1. Aprilheft 1903)
DOI Artikel:
Obrist, Hermann: Neue Möglichkeiten in der bildenden Kunst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0030

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Es gibt einen Spruch, der uns bildenden Mnstlern oft vorge-
halten wird, wenn wir uns in Dinge mischen, die uns scheinbar
nichts angehen.

Bilde, Künstler, rede nicht.

Diese Ermahnung mag nun wohl oft berechtigt sein, allein es
gibt Gelegenheiten, wo mir ihre Anwendung so vorkommt, als wolle
man zum Arzte sagen: Heile, Arzt, rede nicht. Der Arzt muß
reden, wenn es sich in Dingen der Gesundheit um das öffentliche
Wohl handelt, er soll reden. So hat auch der bildende Künstler die
Pflicht zu reden, wenn cs sich um Dinge des öffentlichen Kunstwohles,
um Kulturfragen handelt außerhalb seines Ateliers, und wenn er
glaubt, Schäden erkannt zu haben, dcnen er bcsser abhelfen könnte,
als der Laie.

Wir gehen sogar so weit zu meinen, daß manches besser wäre
in unserem öffentlichen Leben, wenn der bildende Künstler stärker
mit der Allgemcinheit pulsierte, als es jetzt der Fall ist.

Es wird ja so oft gesagt und geschrieben, die Kunst solle er-
sreuen, das Leben verschönern und uns glücklicher machen. Uns,
das sind doch wir alle, nicht bloß die paar Künstler, welche die
Kunst machen. Tut denn das nun die bildende Kunst im Jahre des
Heils 1901? Kehren wir aus der Ausstcllung im Glaspalast zu Mün-
chen strahlend heim, wie nach der O-moll-Symphonie von Beethoven?
Entzückt uns ein Gang längs unserer Schaufenster wie ein Jm-
promptu von Schubert? Ergreist uns ein Spaziergang zwischen den
Denkmälern des Tiergartens in Berlin wie die Meistersinger von
Nürnberg? Sie tun es nicht. Warum denn nicht? Warum sollte
es denn nicht so sein? Wir haben doch solche entzückte Stunden tat-
sächlich erlebt, als wir in jungen Jahren plötzlich durch Florenz
wandeln durften; und wer beschreibt die Seligkeit des Kmaben, der
Rothenburg zum ersten Male erblickt?

Wen ergreift aber Seligkeit, wenn er Berlin erblickt?

Täuschen wir uns nicht: wenn man dauernd in irgend einem
Orte lebt und auf das angewiesen ist, was in^ihm an Architektur,
Plastik, Kunstgewerbe und Malcrei erzeugt wird, so gewöhnt man sich
sehr bald daran, die Dinge schließlich nur noch unter sich zu ver-
gleichen, und da unter Schlechtem sogar das Mittelmäßige gut er-
scheint, so kommt es einem schließlich so vor, als ob man von recht
schönen Sachen umgeben wäre. Und dennoch gibt es einen Maßstab,

* Diese Ausführungen sind einer unter dem gleichen Titel soeben bei
Diederichs in Leipzig erschienenen Essaysammlung von Hermann Obrist ent-
nommen, die rvir, indem wir sie selbst sprechen lassen, all unsern Lesern be-
sonders warm empfehlen möchten. Hier ist eines der ganz wenigen Bücher
über Kunst, bei deren Lob es fast keines Vorbehalts braucht, denn datz jeder
aus einigen Erscheinungen zu nicht ganz genau denselben Schlüssen kommen
wird wie Obrist, geht ja einfach auf Unterschiede der Persönlichkeit zurück und
würde also solchen Vorbehalt nicht im mindesten rechtfertigen. Keiner, der
in sich ein mit Umwölkungen kämpfendes Kunstgefühl klären will, wird Obrists
Bnch ohne Nutzen lesen — es ist die Niederschrift eines der ernstesten Künstler-
geister unsrer Zeit, dem nichts als die mit voller tzerzenswärme, williger
Phantasie und klarstem Denken erfahte Sache die Feder geführt hat. A.

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Kunstwart
 
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