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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 16 (2. Maiheft 1903)
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Ist Musik deutbar?
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0217

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sogar nötiger als jeder anderen Kunst, weil ihr jene direkten Be--
ziehungen zu Natur und Welt fehlen, die in Poesie und Bildnerei
in der Regel die Hauptsache allein erklären. Den großen Gebilden
der heute so stark vorherrschenden Jnstrumentalmusik steht der unge-
schulte Hörer hilflos gegenüber. Wenn er begabt ist, trifft ihn hie
und da eine mächtige und zugleich einfache Melodie tiefer, aber im
allgemeinen bleibt er in sinnlichen Eindrücken stecken, die sich als
Wohlgefallen und Bewunderung oder als Verwunderung und Miß-
fallen äußern. Diejenigen, die von einer Jnstrumentalkomposition
ein durchaus klares Bild mit hinwegnehmen, ihre Grundgedanken und
in jedem Augenblick auch deren Entwicklung verstanden haben, bilden
die Minderheit der Hörer; Kenner, die in einer guten Sonate oder
Symphonie einen gleich ergiebigen Stoff der Diskussion finden, wie
in einer Dichtung, einem Gemälde, eine Seltenheit. Weil die Musiker
die Hermeneutik vernachlässigt haben, ist die Musikästhetik in die Hand
von Dilettauten gekommen, vorwiegend in die von musikalisch unzu-
reichenden Philosophen und diese gerixten darauf: den Jnhalt von
Jnstrumentalkompositionen ins Unbestimmte, Unbewußte zu verlegen
oder ihn ganz abzuleugnen. Hätten sie recht, dann täten sie besser,
nach dem Muster von Altertum und Mittelalter die selbständige Jn-
strumentalmusik als eine Volksgefahr zu behandeln. Glücklicherweise
werden sie von der musikalischen Praxis widerlegt. Bei einem Pia-
nisten ist's allerdings möglich, daß er stundenlang mechanisch, ohne
zu fragen, was die Noten wollen und sagen, dahinmusiziert; bci
einem Orchester nicht. Wenn Beethoven ohne weitere Bemerkung
hinschreibt:

so müssen die Geiger schon aus technischeu Rücksichten, wegen der
gleichmüßigen Ausführung übcr den Charakter dieser Figur im Klaren
sein. Und so ist's überall in der Jnstrumentalmusik: ohne Verständnis
des eigentlichen Sinnes läßt sich kaum ein Takt richtig -ausführen
und, wie gleich hinzugefügt werden darf, anhören. Die Jnstrumental-
musik verlangt ununterbrochen die Fühigkeit, hinter den Zeichen und
Formen Jdeen zu sehen, sie verlangt, daß diejenigen, welche sie
treiben, die Gabe des Auslegens besitzen.

Jn der Vokalmusik erklärt der Text vieles, aber durchaus nicht
alles. Jm ersten Satz seines Requiems läßt Berlioz einmal das
Wort „äona" (sis roguiom) vou den Sopranen folgendermaßen:

singen. Wer nicht hermeneutisch veranlagt, d. h. nicht imstande ist,
das Phantasiebild zu finden, das den Komponisten auf diese wiegende
Figur brachte, wird sie für eine anstößige und geschmacklose Annühe-
rung an den Walzerton halten und sich in dieser Meinung wohl

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