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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 16 (2. Maiheft 1903)
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Ist Musik deutbar?
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0218

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<mch durch eine oder die andre falsche Aufführung bestärkt seheu.
Wie bei diesem einen Beispiel, ist's aber in der Vokalkomposition
überhaupt. Auch in ihr bieten technische Musikbildung und Buch-
stabentreue allein keine genügende Sicherung gegen grobe Jrrtümer
und gegen Mißhandlung der Kunstwerke.

Wie uns somit die musikalische Praxis die Notwendigkeit eines
tieferen über die Formensicherheit hinausgehenden Musikverständnisses
zeigt, so ergibt sie zugleich auch dessen Möglichkeit. Wenn die Or-
chester jenes Beethovensche Motiv hart und streitbar spielen, die Chöre
das Berliozsche weich und träumerisch singen, so ist damit der tat-
sächliche Beweis geliefert, daß über den Sinn und den Charakter
einzelner Stellen einer Komposition eine Einigung, eine den nächsten
Bedarf deckende Klarheit erzielt werden kann. Nach den Gesetzen der
Addition muß sich dann aber auch eine ganze Komposition erklären
lassen, es muß Mittel geben, den Geist eines ganzen Musikstücks und
seiner einzelnen Teile bis in die kleinsten Glieder hinein offenzu-
legen, es muß mit einem Wort eine musikalische Hermeneutik mög-
lich sein. Ernstlicher ist sie eigentlich in unsrer Zeit nur durch dw
sogenannten Formalästhetiker in Frage gestellt worden. Diese ur-
alte Partei fand beim Emporkommen der neudeutschen Musik rn
Eduard Hanslick einen Vertreter, der an glänzender geistreicher Dia-
lektik, an treffenden Beobachtungen und Bemerkungen allerdings alle
Pythagoraeer, alle Artusi und Ulibischeffs weit hinter sich ließ. Jhm,
und nur ihm hat es die Musikwelt eine zeitlang glauben können,
daß die Begründung neuer Formen mit einem neuen Jnhalt unstatt-
haft sei, daß die Musik keinen Jnhalt habe, es seien denn Tonreihen.
Die Unhaltbarkeit der Behauptung ergibt sich schon durch den Ver-
such, sie auf andre Künste zu übertragen. Da bestünde der Jnhalt
der Poesie in Silbenreihen, der von Gemälden und Skulpturen in
Farbe und Leinewand, in Marmor und Bronze. Jndes auch Para-
üoxen können heilsam sein. Die Kühnheit Hanslicks hat in einer
überschwänglichen Zeit den Glauben an das unbegrenzte Vermögen
der Musik nützlich herabgestimmt nnd sie zwingt noch heute auch die
grundsätzlichen Gegner der Formalüsthetik zwischen dcr Ausdrucks-
fähigkeit der Musik und der anderer Künste Unterschiede anzuerkennen.

Nach gewissen Richtungen kann die Musik weniger, nach andern
unendlich mehr als ihre Schwestern. Es ist ihr versagt, zu objekti-
vieren und allein genaue Bilder und Begriffe zu geben. Mit allen
Tönen der Welt kann der Komponist keine bestimmte Vorstellung von
einem Wald, einem See geben; dem Dichter gelingt's mit einem
Wort, dem Zeichner mit einigen Dutzenden von Strichen. Ganz an-
ders, wenn der Komposition ein Text oder eine Ueberschrift zu Hilfe
kommt, da vermag sie in die Feierlichkeit oder die Heimlichkeit des
Waldes schneller, unmittelbarer und fesselnder einzuführen, als jedes
Gedicht und jedes Gemälde. Sie ist eine geborene Hilfskunst, ihre
Absichten müssen dem Geist und der Phantasie vermittelt, ihre Ob-
jekte vorher vereinbart werden. Sie hat kein Organ für Namen
und Bezeichnungen, sie ist, wie M. Hauptmann sagt, eine Algebra,
eine Rechnung.mit unbenannten Größen. Aber dem Eingeweihten
gibt sie vom Wesen und vom Jnnenleben der Objekte Bilder von

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