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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0653

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jung, ungestüm, verwöhnt durch die wilden, verderbten Jahrhunderte,
deren Händen er entschlüpfte, war sein erster Gedanke, ihre Beispiele
'M verschmähen, und war er auch ganz eingenommen für die Kunst,
deren Reize er dunkel erkannte, so galt doch sein Sinnen zuvörderst
der Religion und der Tugend. Jch habe den Bruder Savonarola
geknnnt, edle Frau, und niemals ist der Anblick dieser ehrwürdigen
Gestalt aus meinem Gedächtuisse entschwunden. Jch habe von seinen
Lehren gelebt. Sei es, daß er zuviel von uns verlangt, sei es, daß
das arme Jtalien seine Kräfte zu sehr überschätzt hat, und die Phan-
tasie bei ihm in keinem Verhältnis zu seiner Rechtlichkeit stand,
Jtalien entwand sich seinen Händen und blieb in denen des Lasters.
Aber dennoch fühlte es sich; es hatte das Bewußtsein seiner Ueber-
legeuheit über die übrige Welt. Es verachtete die andern Länder und
brauchte deren Hilfsquellen zu seinen Zwecken; es war ihnen ein
Gegenstand der Bewunderung und wußte es. Es kannte sich als
groß und träumte nichts anderes, als noch größer zu werden. Seine
Künstler . . . Jhr wißt, was sie gewesen sind! Jetzt ist alles vorbei.
Das Feuer ist erloschen. Es gibt kein Jtalien mehr. Diejenigen, die
wir verachteten, werden unsere Meister. Die Künstler sind dahin. Jch
bin der letzte Ueberlebende aus der heiligen Phalanx; was man mit
demselben hehren Namen benennt, den wir getragen haben, sind nur
noch Krämer, denen es nicht an Unverschämtheit fehlt. Da sollte
man wohl sterben! Wir sterben übel, traurig. Was tut's? Es hat
schöne Seelen, glorreiche Seelen in diesem Jtalien gegeben, das hin-
fort geknechtet und niedergeworfen ist. Jch bedaure es nicht, ge-
lebt zn haben.

Die Marchesa. Ach! Jch bin minder entrückt als Jhr. Jch
leide um diese glorreichen Dinge, die uns verlassen haben oder uns
Lebewohl sagen. Mir scheint, daß, nachdem wir mit Licht überströmt
gewesen, unsere wankenden Schritte in die Finsternis führen.

Michelangelo. Wir lassen große Dinge hinter uns und
großc Beispiele . . . Die Erde ist reicher, als sie war, ehe denn wir
kamcn . . . Was verschwindet, wird nicht ganz und gar verschwin-
den . . . Die Felder können ruhen und eine Zeit brach liegen; das
Samenkorn ist in den Fluren. Der Nebel kann sich ausbreiten, und
der Himmel grau und trüb sich mit Dunst und Regen bedecken, die
Sonne steht dort droben . . . Wer weiß, was wiederkommen wird?

Die Marchesa. Jhr scheint erschöpft, mein Freund. Euer
Haupt neigt sich . . .

Michelangelo. Ja, ich bin müde . . . ich will Euch ver-
lassen . . . Jch bin neunundachtzig Jahre alt, Marchesa, und jede
Bewegung greist mich ein wenig an; wir haben diesen Abend von
gar ernsten Dingen gesprochen. Lebt wohl!

Die Marchesa. Auf morgen, nicht wahr?

Michelangelo. Auf morgen . . . ja . . . wenn ich noch von
dieser Welt bin . . . und wenn ich nicht mehr darin bin, auf Wieder-
sehen, edle Frau! (Er erhebt sich, die Marchesa stützt ihn und drückt
ihm die Hand.)

Die Marchesa. Lehnt Euch auf meinen Arm . . . ich will
Euch bis unten an die Treppe geleiten.

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Kunstwart
 
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