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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0652

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und einer mürrischen Hartnäckigkeit, meine Blicke anf das geheiligte
Ziel zu sammeln, das ich zu verfehlen fürchtete. Jndessen fühlte ich
sowohl meine Hoffnung, zum Siege zu gelangen, als meine Furcht,
ihn mir entgehen zu lassen, sich verdoppeln, während ich gewahrte,
daß jeder Schritt, so hart, so mühselig, so beschwerlich er auch sein
mochte, mich ihm doch näherte. Jch lebte dahin zwischen der Arbeit
und den Anstrengungen, die mich außer mir brachten; ich wollte die
Natur in all ihren labyrinthischen Windungen auf einmal ergreifen,
nnd ich erkletterte ihre Gipfel, indem ich mich mit den Händen, mit
den Fingern, mit den Füßen, mit den Knieen, mit dem ganzen Körper
an das anklammerte, was sie mir an Stützpunkten darboten. Jch
bin Bildhauer, Maler, Dichter, Baumeister, Jngenieur, Anatom ge-
wesen; ich habe Kolosse in Stein ausgehauen und Figurinen in Elfen-
bein ciseliert; ich habe die Wälle von Florenz und Rom cntworfen,
Bastionen errichtet, Fronten defiliert, Glacis ausgemessen, und nicht
fern von dem Gcbäude, dessen Wand ich mit der Offenbarung des
jüngsten Gerichtes gezeichnet habe, ist es mir gelungen, die unge-
heure Kuppel des Fürsten der Apostel bis in die höchsten Höhen der
Atmosphäre emporzuführen. Kurz, wenn ich nicht alles vollendet, was
ich gewollt habe, so ist es doch gewiß, daß ich einiges wenige voll-
bracht habe. Eines Tages habe ich mich an einem so hohen, einem
höheren Platze gesehen, als ich hatte träumen oder wünschen können.
Die Päpste, die Könige, der Kaiser, die Fürsten haben mich geehrt.
Die Künstler haben mich zu ihrem Ersten ausgerufen, und ich habe
nichts mehr weder von mir selbst zu verlangen gehabt, der ich wußte,
was ich zu tun vermöge, noch von der Welt, die mir mehr gab,
als ich von ihr erwartet hatte. Da, immer noch im Arbeiten, ist
mein Herz zur Ruhe gekommen; der Zweisel, die Furcht, den Weg
zu verlieren, sind von mir gewichen. Jch habe mir Muße ausge-
funden, um zu betrachten, zu schätzen, zu loben, zu lieben. Die Auf-
regung und die Ungeduld haben aufgehört, mich dem Sturm der
Ungewißheit preiszugeben, und ich bin, wohl oder übel, der Mann
geworden, der ich heute bin und der, um geboren zu werdeu, der
Jahre bedurfte und sich im Alter jung findet.

Die Marchesa. Es tut mir wohl an Euch, Michelangelo,
daß, wiewohl Jhr immerfort dem elenden Gang, den der Geist unsrer
Zeitgenossen für die Zukunft genommen, Eure Aufmerksamkeit zn-
wendet, der Grad des Verfalles, worin Jhr ihn seht, Euch doch weder
Aergernis noch Widerwillen mehr verursacht.

Michelangelo. Er flößjt mir ein tiefes und inniges Mit-
leid ein. Diese Welt, die ich betrachte, ist ein Genoß, mit dem ich
eine lange Reise zurückgelegt habe, und, umgekehrt wie ich, ist er
müde geworden, er hat seine Kraft verloren, er strauchelt und will
am Wegesrande niederfallen, während mich die Erwartung des Lebens,
in das ich eintreten soll, anfeuert und mit der himmlischsten Hofs-
nung berauscht! Am Morgen des Jahrhunderts, als wir znsammen
auszogen, war mein Genoß blühend an Jugend, üppig von Gesund-
heit, und Hoffnungen jeder Art schürten die Flammen der stolzen
Blicke, die er über den Horizont schweifen ließ. Während ich zweifelte,
zweifelte mein Genoß an nichts; ich schulde ihm diese Gerechtigkeit;

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