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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 13 (1. Aprilheft 1903)
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Pohl, M.: Noch einmal Volksgesang und Schulgesang
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0024

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ich kenn inir nicht helfen, das will mir wie eine Bersündigung an dem
Liede erscheinen. Jch bin überzeugt, daß Schülcrn sehr wohl auf dem
von Friedrichs angezeigten Wege die richtige Empfindung, das Ver-
ständnis für den poetischen und musikalischen Gehalt auch eines schwc-
rercn Liedes vermittelt werden kann, aber jeder Sänger, der des
öfteren versucht hat, diescn Gehalt in die Sprache seiner persönlichcn
Ausdrucksfähigkeit zu übersetzen, wird mir bezeugen, ein wie weiter
Weg noch vvm Verständnis zur vcrständnisvollen Wie-
dergabe eines Kunstwerkes führt, und mir beistimmen, wenn ich
behaupte, daß der Vortrag derartiger Lieder wie der genannten für
Kinder von dreizehn bis vierzehn Jahren ein Unding ist, geschweige
für einen ganzen Chor von Kindern.

Aber dies alles ist vielleicht persönlich empfunden und nicht maß-
gcbend genug: ich würde es auch nicht gewagt haben, diesc Einwände
allein geltend zu machen einer so ehrlichen und kunstfreudigen Ar-
beit gegenüber, wie sie Friedrichs offenbar mit seinen Schülern leistet.
Ein nachweisbarer Jrrtum aber scheint mir vorzuliegen, wenn er
hofft, durch dieses Verfahren unsern Volkslicderschatz um die Lieder
unserer Meister zu bereichern.

„Unsre Schulliederbüchcr," sagt er, „bieten ein-, zwei- und drei-
stimmige Volkslieder — Lieder, die sie für Volkslieder halten, die es
aber gewöhnlich nicht sind .... Zur Zeit der moralischen Erzählungen
sang man: „Ein junges Lämmchen, weiß wic Schnee, ging einst mit
auf die Weide," und verdrängte durch diese und noch schönere Texte
das alte, echte Volkslied aus der Schule und damit aus weiteren
Kreiscn unsres Volkes."

Ja, was ist denn ein echtes und was ein fälschlich dafür ge-
Haltenes Volkslied? Jch kcnne die Komposition des berüchtigten Lämm-
chenliedes nicht, meine aber, daß man zunächst als Musiker in dieser
Weise vom Textlichen nicht ausgehen darf. Wenn dieses Lied sich
wirklich eine Zeit lang von der Schulc aus cingebürgert haben sollte
— und mir ist so, als seien ähnlich geistreiche Texte in meiner Jugend
anch anßerhalb der Schule viel gesungen worden — so muß an dem
Liede etwas sein, das den albernen Text vergessen läßt. Ein
Bolkslied ist und bleibt nun einmal ein Lied, das das Volk singt;
das aber ist manchmal allerdings weder inhaltlich noch musikalisch
„schön", auch nach andercn Seiten hin nicht, als bloß hinsichtlich der
Plattheit des Textcs. Wer beim Militär gestanden hat, der kennt
die zum Teil bodenlos rohen Volkslieder, die da unerlaubter oder
geduldeter Weise auf den Märschen zwischen mehr oder weniger guten
Soldatenliedern gesungen werden: Lieder, die sich nicht wiedergeben
lassen, die aber dcr textlichen wie musikalischen Gestalt nach sich deut-
lich vom Gassenhauer unterscheiden und als wirkliche Volkslieder kenn-
zeichnen.

Wie steht es nun mit dcr von Friedrichs geplanten Bereicherung
des Schatzes unsrer Volksliedcr durch die Lieder unsrer Meister?
Sind sic geeignet, cchte Volkslicder zu werden, d. h. Licder, die unser
Volk da bcgleiten, wo es Freude oder Leid, Behagen oder trübe Stim-
mung in Tönen auszusprechen gewohnt ist? — Wo singt denn unser
Volk überhaupt?

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Runstwart
 
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