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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 13 (1. Aprilheft 1903)
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Pohl, M.: Noch einmal Volksgesang und Schulgesang
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0025

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Nun, es singt hin und wieder bei der Arbeit, es singt auf dem
Marsche, dem Spazierwege und endlich bei der Ruhe vom Marsche
und von der Arbeit. Kann nun da ein Lied wie Beethovens „Kennst
du das Land" oder Schuberts „Nur wcr die Sehnsucht kennt" odcr
Löwes durchkomponierte Balladen ohne Klavierbegleitung
wirklichen Genuß bereiten? Denn nur in den seltensten Füllen wird
ja das Klavier zur Stelle sein, um seinen Anteil zu übernehmen und
auch dann nicht immer einer, der die zum Teil schwierigen Beglei-
tungen Löwescher Balladen spielt. —

Nun, dann singt man das Lied eben ohne Begleitung, wird
man mir entgegnen. Ja, aber das mit der Begleitung wunderschöne
„Kennst du das Land" ist ohne sie kaum genießbar, „Heinrich der
Bogler", ich meine hier immer die Löwesche Ballade in der Urform,
so gut wie gar nicht zu singen. Das haben die Bearbeiter des Liedes
für Schulzwecke sehr richtig erkannt, indem sie nur die erste Melodie
für alle Strophen verwendet haben, wobei allerdings die Charak-
terisierung verloren gegangen ist. Warmn aber hat man es dann
getan? Kann man denn nicht die Melodie eines jeden Liedes, so
wie sie ist, ohne Bcglcitung singen?

Mit Erlaubnis — das ist der Punkt, auf deu ich hinaus will:
mau kaun cs nicht! Man täusche sich nicht, indem man als Gegen-
beweis ein Lied, das man bereits mit Begleitung kennt, ohne diese
singt und sich einredet, das klinge doch ganz schön. Ja, für den,
dem die Begleitung bekannt ist, denn ihm klingt sie unbewußt mit,
wenn nicht in allen ihren Teilen, so doch in den Hauptakkorden, bei
den Modulationen, bei allen Stellen, wo die Melodieführung aus
der Singstimme allein nicht klar wird. — Das musikalisch Wesent-
liche des Volksliedes aber ist es gerade, daß seine Melodie ohne
Begleitung irgend welcher Art für sich klar wird und genießbar ist.
Das Volkslied nämlich führt seine Melodie so, daß jeder Hörer, sich
selbst unbewußt, die Harmonien, die Begleitakkorde dazu bildet. Es
bewegt sich in ganz einfachen Harmoniefolgen und Modulationen, es
weicht meist nur nach den beiden Nachbartonarten in Dur oder Moll
aus und bedarf zur Modulation daher meist nur der auf der Quinte
oder Quarte aufgebautcn Dreiklänge oder des Dominant-Septimen-
akkordes; vor allem meidet es eine Melodieführung, in dcr sich nicht
Ton an Ton mittels einer unzweifelhaften, innerlich mitklingenden
Begleitung anschließt, es meidct also Tonfolgen, die in der Beglei-
tung Modulationen nach zwei verschiedenen Tonarten zuließen. So
etwas kommt im Volksliede gar nicht vor: beim bloßen Hören einer
Melodie fühlt man ohne weiteres, welcher verwandten Tonart sie an
dieser oder jener Stelle zustrebt. Natürlich wird dieses musikalische
Gesetz ganz unbewußt innegehalten; es ist eben das Gesetz der Ein-
fachheit in der Melodie: Lieder, die diesem Gesetz folgen, kann man
einstimmig ohne Begleitung singen und ihre Melodien haben An-
wartschaft, Volksmelodien zu werden.

Entstehen nun heute noch solche Volkslieder? Friedrichs weist
auf eine sehr reiche Quelle solcher einfacher Melodien hin: das Kin-
derlied, wofern es überhaupt kindlich gehalten ist, wird dem Gesetz
der einfachen Melodieführung folgen müssen, und so finden wir z. B.

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