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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 19 (1. Juliheft 1903)
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Hauptmann, Carl: Unsere Wirklichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0386

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Wer nun den Sinn und das Erlebnis des Lebens wieder leben
will um seiner selbst willen, der muß dem Geheimnis der speisenden
Mitteilung der Wirklichkeiten sich wieder ganz hingeben und rein
fühlen die Gefühle, die in solcher Urmitteilung sich im Gemüte lösen,
der muß ganz und voll nur das Wirkliche seiner Persönlichkeit setzen,
sich zurückfühlen auf sich selber und auf die wirklichen lebendigen
Quellen, auf die eigensten klaren und unzweideutigen Lebensmächte,
daß er aus sich und ohne Nachfrage bei anderen weiß, was ihn an--
rührt, ihm wohltut oder ihn herabwürdigt.

Denn das Naturwesen macht die Persönlichkeit, wie alles Ge-
sellschaftswesen sein machtloses Spiegelbild, das Jch. Deshalb haftet
an allen Persönlichkeiten, so sehr sie sich sonst auch zu Dogmen und
Theorieen bekennen mögen, etwas vom Heidenmanne. Und die Ge-
sellschaft, sonst eine arge Ketzermacherin, in der Ahnung, daß nur
aus der Naturwesenheit neue, frische, wirkliche Lebenswerte kommen,
verzeiht Verstöße gegen ihre Gesetze manchem, wenn sie an seinen
Geistesgaben merkt, daß er aus dem Naturbrunnen schöpfen mußte.
Jhre Naturwesenheit ist die Wirklichkeit der Person. Hier guillt
immer neu, auch was man Genie genannt hat: Das Ursprüngliche,
das, was unabhängig von allem Erdenklichen und Gedeuteten, frei
von Herkommen, von aller erdenklichen und erdachten Absicht auf-
quillt, ob sich auch die Absichtsmenschen zuerst immer mit aller ihrer
Gesellschaftsmacht dagegen verwahren; neu und eigensinnig und per-
sönlich und dann mit der Zeit brauchbar nicht nur, noch mehr auf-
hellend, belebend, Werte und Arbeit gebend und befreiend in der
Menschengesellschaft. Woher sollte es kommen — das Ursprüngliche
im Geist? Man nannte es früher Jnspiration. Es kommt jeden-
falls aus dem Grunde, aus dem auch die Menschheit immer wieder
wirklich und jung aufsteigt, und unsere Frühlinge immer wieder
wirklich leuchtend und blühend erwachen. — Ein ewig verläß-
liches Grundwesen ist unsere Wirklichkeit. — Die Persönlich-
keit kann nicht Kulturwesen sein. Aus dem Gesellschaftsdasein ist
alles Heimliche und Feinerkenntliche ausgetrieben, es ist alles mit-
teilbar, absichtlich, verständig, entgöttert und auf Gesetze gebracht.
Nur der naturwesenhaft Machtvolle, der in seiner einzelnen Wirklich-
keit ruhende Mensch sitzt an Urgestein und Urquelle, kommt in sich
auf die natürliche oder göttliche Speisung des freien, schaffenden
Lebens, fühlt die Gnade — oder auch das Trostlose der Leere und
des Dunkels — im eigenen letzten Grunde und achtet oft der Ge-
sellschaft Gnade nicht, die zu sichtlich nur von kurzen Absichten ge-
macht und zu sehr eine Gebnrt des Willenschaos ist, das die Zeit
erst sichtet. —

Meine Damen und Herren!

Der Mensch ist aus Erde gemacht wie die Pflanzen, wie die
Tiere. Aus derselben Erde, die als Ackerkrume unsere goldenen
Ernten trägt, oder als starres Urgebirge aufragt. Der Mensch ist
aus Erde gemacht, Wasser muß in seinem Blute rinnen, Sonne muß
Licht und Wärme geben und reine Luft sich seiner irdenen Gestalt
beimengen, wenn das Starre in ihm beweglich und lebendig sein
soll. — Der Mensch i st ein Naturwesen. — Das macht auch, daß er
Sonne und Lüfte und Quellen und die Scholle einmal liebte. Das

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