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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 19 (1. Juliheft 1903)
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Hauptmann, Carl: Unsere Wirklichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0385

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der, dic eine unteilbare, immer dieselbe machtvolle wirkliche Welt
seine Mutter sein lassen. Jch weiß wohl, das Gesetz dieser einen
mächtigeu Wirklichkeit ist uns gar unbekannt, und wenn wir cin-
zelnen unsere persönlichen Grenzen Schlaf und Tod überschreiten,
dann sind wir im Lande des Nichtwissens. Ueber diese
Grenzen hinaus trägt uns kein Erlebnis. Wir haben uns Hhpo-
thesen und Dogmen geschaffen, jene Erlebnisklüfte zu überbrücken.
Aber wir müssen uns klar bleiben, daß das naturwesenhaft Wirk-
liche deshalb nicht weniger uusere Wirklichkeit geblieben und durch
Hypothesen und Theorieen und Dogmcn und Begrisfc im Grunde
nicht anders geworden ist. Wir können es, ein jeder von uns, der Sinn
und Leben als Erlebnis um sciner selbst willen leben will, ja immer
noch wie im Urbeginn erleben und schauen: Aus dem Lande
des Nichtwissens kam unsere Wclt, aus jenem Schlafc sind wir ge-
stärkt crwacht, aus jenem Tode wurden wir jung geboren. Das ist
die eine große machtvolle Wirklichkeit, das ewig verläßliche Grund-
wesen, das auch in unseres Leibcs und Lebens Wirklichkeit als dessen
zuverlässige Macht eingegangcn und dessen machtvolle Wirklichkeit
selber ist. Unsere Begriffe und Thcoricen und Dogmen sind sekun-
där, Hilfsmittel und Ersatzmittel für wirkliches Erleben, und nur die
Herausarbeitung jener machtvvllen Wirklichkeit in uns und anßer uns
kann die wahre Tat der Erkenntnis — Ehrfurcht und Liebe vor und
zu cinem wahrhaft gegenwärtigen und gütigcu Wirken cine um mciner
selbst willen und aus mir lebendige Anbetung sein. —

Es hat eine Zeit gegeben, die hat uns nm jeden Preis ver-
gesscn machen, daß wir Naturwescn sind. Nicht nmsonst lautet aus
dieser Zeit einc Bcichtvorschrift des Korrektors Burchardi: „Hast
Du Brot oder Blumen an den Quellen geopfert." Mit allen
Mitteln grausamer Macht hat man dem damaligen Kindheitsmenschen
die Verehrung seincr Quellen nnd der Sonne und Stcrne ausge-
trieben, man hat ihn verlacht, wenn er zu Ehren seiner Götter
tanzte, oder wenn er dcn Stimmcu des Urwaldes wie summenden
Offenbarungen lauschte. Wir Menschen von der deutlichen Gesell-
schaftsabsicht, vom freien Willen, können uns gar nicht mehr recht
hineindenken. Wir sind zu gewöhnt an die klaren und verständigen
Unterscheidungen, in die wir Sonne, Mond und Sterne, Wasser und
Lüfte restlos untergebracht haben. Der Kindheitsmensch fühlte uoch
unmittclbar, daß in dem Frieden und der Größc des Urklangs große
und freie Gefühle sich in seinem Gemüte lösten. Der Verstand hatte
ihm noch nicht die Gesellschaftsbegriffe der Dinge trennend in seine
Wirklichkeit eingeschoben und sein Erlcbnis in cine sogenannte tote
Materienwelt und eine idealc Jnnenwclt zerrissen. Er hielt sich des-
halb nicht an eine einzige sinnvolle Mittcilung, die dcr Rcde, und
glaubte nicht an das ausschlicßliche Eintrichternkönncn des Sinnes
von Menschcn und Dingen und Erlebnissen in Wort und Lehre von
außen nach innen. Sondern — er vcrnahm staunend in allcn wirk-
lichcn Dingen, iu Sonne uud Quellcn und Lüften, im Nauschen der
Wäldcr, wie in dem Hauche des Mundes oder in den Stimmcu und
Gesichten der eigenen Brust den wuuderwirkenden, lebenwirkcnden
Weckruf, das ewige Geheimnis aller Mitteilung.

1. Iuliheft idos

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