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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 19 (1. Juliheft 1903)
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Hauptmann, Carl: Unsere Wirklichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0377

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Vermutcn Sie nun viclleicht, ivaruin ich von einer Rüstung
sprach, die uns von dem natürlichen Leben mehr und mehr ab-
trennt? Meinen Sie denn, daß es uns, die wir nicht Diebe sind,
in unserem Verhältnis zu allen nährendeu nnd lebenspendenden wirk-
lichen Dingen im Kulturverlaufe anders gegangen ist, als unseren
Dieben? —

Lassen Sie mich ein anderes Beispiel wählen. Pierre Loti
erzählt in seinem Buche „Die Wüste", daß die Kamele, wenn am
Wüstenrande die Sonne versinkt, ein furchtbares Geschrei erheben.
Sie fühlen, was es zu bedeuten hat, wenn die Wüstennacht beginnt,
wenn die Abkühlungen der Erde plötzlich und grell einsetzen. Die
armen Tiere fühlen, was eine Welt ohne Sonne für Schauer birgt,
nnd sie schreien in Furcht. Und wenn der Sonnenball golden sprühend
überreich über die Wüstenränder quillt, dic Welt, Steine und Wege
und unendliche Fernen und Lüfte mit Licht durchflutend, wenn der
Beduine seine Arme anbetend gen Aufgang aufhebt, da geht wieder
ein Schrei aus den Kamelen wie ein inbrünstiges Grüßen der Sonnc.
Sie fühlen, was es bedeutet, wenn die Sonne kommt und die Wärme,
die alle Mühsal und Schaner der Nächte verjagt. Die Ticre fühlen,
was eine Welt voll Sonne für Wnnder und 'Glück und Leben be-
deutet. Sie schreien voll Schmerz, wenn die Sonne scheidet und
grüßen in stürmischer Freudc, wenn sie ihr Angesicht wiedersehen.

Die Sonne — unser Muttergestirn! —

Wer von uns kümmcrt sich noch, wenn die Sonne auf- und
untergeht? Wir haben längst unser Liebesvcrhältnis zur Sonne
verloren. Wenn die Sonne aufgeht, liegen wir meistens noch zu
Bett. Wir fragcn nicht die Sonne, wir fragen die Uhr, wenn es
Zeit ist, aufznstehen. Nnd wenn es acht odcr neun ist oder zehn,
was weiß ich, dann erhebcn wir uns und nehmen es glcichgiltig hin,
daß es Tag ist, und gehen unsere Wege in Häuser und zu Menschen
und zu Worten und Zeitungcn, und lassen die Sonne den ihren
gehen, den ewig wunderbaren, weiten Himmelsbogen.

Vermuten Sie nun, warum ich von einer Rüstung sprach,
die uns von dem natürlichen Leben immer mehr abtrennt? Meinen
Sie, daß wir innerlich reicher oder ärmer gcworden sind dem schönen
Stcin gegcnüber, als der Dieb Komakom? rcicher oder ärmer dcr
Sonne gegenüber, als jene Kamele? —

Jch will noch ein anderes Beispiel wählen. Dcr Bruder eincr
Freundin von mir ist Jngenieur nnd leitete einmal dcn Bau eincr
Eisenbahnstrecke im Kaukasus. Unter seinen Arbeitern fanden sich
viele junge Tscherkessen. Der Herr beobachtcte, daß ein junger,
schöner Bnrsche unter dcn Tscherkesscn oft mittcn in der Arbeit stun-
dcnlang wegblieb. Da herrlichc Sommcrzeit herrschte und die Ge-
gend weit herum einsam war, war die Frage, was wohl der Bnrsche
in der Einsamkeit triebe? Der Herr spürt ihm älso einmal nach.
Und was sieht er? Der schönc, jungc Tscherkesse hat sich das Ober-
klcid ausgczogen und tanzt für sich stundenlang in den schönen, ein-
samen Sommerwiesen. — Dieses zweckverlassene Lieben der schönen
Bewegung! Diese Seligkeit der Freiheit tanzender Betätigung in
der schöncn, einsamen Natur! — Glauben Sie, daß dcr träumerische

LZS

z. Iuliheft 1902
 
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