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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
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Platzhoff-Lejeune, Eduard: Vom bildenden Reisen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0612

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und doch nicht „gebildeter" davon werden. Elf Monate des Jahres
arbciten sie wie die Tagelöhner in ihren Schulen, Bibliothekcn und
Bureaus. Oft dauert es Jahre, bis die nötigen Hundertmarkscheine
beiscite gelegt sind. Endlich, grün angetan und mit einem zwei
Meter hohen Alpenstock versehen, geht die Reise los. Jst das Wetter
schön, so fängt man mit den Bergen an und besucht gewissenhaft
— ach wie gewissenhaft! — alle Stätten, die der Kollege im vorigen
Jahr andachtsvoll betrat. Jmmer den Bädeker in der Hand und
seinem kleinsten Wink mit jener eisernen Disziplin gehorchend, an
die der Beruf und der Vorgesetzte gewöhnt haben. Nur abends
beim Bier — Hotels ohne Bier werden vermieden. — erlaubt man
sich eine Stunde vor dem Schlafengehn zu tun und zu lassen, was
man selber will. Regnet es, so wird die Pilgerfahrt in den Städten
fortgesetzt. Was muß man sehn? fragt der an Autorität gewohnte
Mann der Pflicht seine drei Reisebücher, den Wirt, den Kellner und
das offizielle Auskunftsbureau. Jm Durchschnitt sind's drei Museen,
drei Galerieen, sechs Plätze, zwölf Türme und die Umgebung. Fröh-
lich zieht er aus, und das Uebermenschliche wird geleistet; aber schließ-
lich stcllt sich die Erschöpfung doch früher ein, als das Ende der
vvrgcschriebcnen Genüsse. Der Kopf ist zum Zerspringen voll, und
die Mühle des unermüdlichen Führers klappert immer weiter. Daten,
Namen, Eindrücke verwirren sich, die Beine tragen den Bildungs-
beflissenen kaum mehr, und es schwindelt vor seinen Blicken. Noch
ist ein entlegenes Museum zu sehn, das die Reisebücher mit Sternen
und Ausrufungszeichen begleiten, das der Kollege mit großer Be-
geisterung besucht hat. „Muß man?" fragt der Kühnste der Truppe
in der Stimmung eines Berurteilten, der den Erfolg seines Begna-
digungsgesuches abwartet. „Man muß", antwortet dumpf der
Senior, und der Cicerone beeilt sich hinzuzufügen: „Natürlich, meine
Herren, das müssen Sie jedenfalls sehu!" — Mich dünkt, wenn
die Unglücklichcn nach vier Wocheu wieder vor ihrem Schreibtisch sitzen,
werden ihnen die Bureauarbeiten gegen das Geleistete wie ein Kin-
derspiel vorkommen. Falls sie nämlich nicht so völlig erschöpft sind,
daß ein neuer „Erholungs"urlaub notwendig wird.

Wie sollen wir uus zu dicscn zwei Klassen stellen, die beide
den Bildungswert des Reisens sehr hoch einschätzen, beide von seiner
bildenden Wirkung auf ihre Person völlig überzeugt sind und doch
beide offenbar weder klüger noch reicher heimkommen, als sie weg-
gegangcu sind?

Wir mcinen: soll das Reisen wirklich bilden, so muß es, erstens,
langsamer geschehn. Wir wollen zu viel und zu schnell sehn. Zur
oberflächlichen Kcnntnis einer Stadt wie Paris gehört mindestens
ein Jahr: unsere Reisenden braucheu nur 45 Tage für ganz Frank-
reich! Zur Erlernung einer Sprache gehören deren zehn: es ist sehr
viel, weuu die deutschen Mädchen in den ausländischcn Pensionatcn
zwölf Monate aushalten! — Wir meinen ferner, man sollte auf der
Bildungsreise jeder nicht unbedingt uötigen Erinnerung an die Heimat
ausweichen, sollte sich womöglich in einer Familie einguartieren, die
kein Wort deutsch versteht, sollte keine Ansprüche an die gewohnte
Kost geltend machen, sondern schluckeu, was die Andern auch schlucken.

4?S

t. Sextemberheft tdv3
 
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