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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 20 (2. Juliheft 1903)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0475

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über das Ruhebett und fielen über
dessen Rand auf den Boden, daß ich
alle Hände voll zu tun hatte, den Reich-
tum zusammcnzuhalten. Jch entfernte
mich von selber Stunde an nicht mehr
vom Lotterbettchen und las dreißig
Tage lang, indessen es noch einmal
Winter und wieder Frühling wurde;
aber der weiße Schnee ging mir wie
ein Traum vorüber, den ich unbeachtet
von der Seite glänzen sah. Jch griff
zuerst nach allem, was sich durch den
Druck als dramatisch zeigte, dann las
ich alles Gereimte, dann die Romane,
dann die italienische Reise, und als
sich der Strom hierauf in die prosa-
ischen Gefilde des täglichen Fleißes,
der Einzelmühe verlief, ließ ich das
Weitere liegen und fing von vorn an
und entdeckte diesmal die ganzcnStern-
bilder in ihren schönen Stellungen zu
einander und dazwischen einzelnc selt-
sam glänzende Sterne, wie dcn Reinecke
Fuchs oder den Benvenuto Cellini. So
hatte ich noch ein Mal diesen Himmel
durchschweift und vieles wieder doppelt
gelcsen und entdeckte zuletzt noch einen
ganz neuen hellen Stern: Dichtung und
Wahrheit. Jch war eben mit diesem
zu Ende, als der Trüdler hereintrat
und sich erkundigte, ob ich die Werke
behalten wolle, da sich sonst ein ander-
weitiger Käufer gezeigt habe. Unter
diesen Umständen mußte der Schatz
bar bezahlt werden, was jetzt übcr
meine Kräfte ging; die Mutter sah wohl,
daß er mir etwas Wichtiges war, aber
mcin dreißigtägiges Liegen und Lesen
machte sie unentschlossen, und darüber
ergriff der Mann wieder seine Schnur,
band die Bücher zusammen, schwang
den Pack auf t>en Rücken und empfahl
sich.

Es war, als ob eine Schar glän-
zender und singender Geister die Stube
verließen, so daß diese auf einmal still
und leer schien; ich sprang auf, sah
mich um, und würde mich wie in einem
Grabe gedünkt haben, wenn nicht die
Stricknadeln meiner Mutter ein freund-

liches Geräusch verursacht hätten. Jch
machte mich ins Freie; die alte Berg-
stadt, Felsen, Wald, Fluß und See
und das formenreiche Gebirge lagen
im milden Schein der Märzsonne, und
indem meine Blicke alles umfaßten,
empfand ich ein reines und nachhaltiges
Vergnügen, das ich früher nicht ge-
kannt. Es war die hingebende Liebe
an alles Gewordene und Bestehende,
welche das Recht und die Bedeutung
jeglichen Dinges ehrt und den Zu-
sammenhang und die Tiefe der Welt
empfindet. Diese Liebe steht höher als
das künstlerische Herausstehlen des Ein-
zelnen zu eigennützigemZwecke, welches
zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune
führt; sie steht auch höher, als das Ge-
nießen und Absondern nach Stim-
mungen und romantischen Liebhabe-
reien, und nur sie allein vermag eine
gleichmäßige und dauernde Glut zu
geben. Es kam mir nun alles und
immer neu, schön und merkwürdig vor,
und ich begann, nicht nur die Form,
sondern auch den Jnhalt, das Wesen
und die Geschichte der Dinge zu sehen
und zu lieben .. .

Nur die Ruhe in der Bewegung
hält die Welt und macht den Mann;
die Welt ist innerlich ruhig und still,
und so muß es auch der Mann sein,
der sie verstehen und als ein wirken-
der Teil von ihr sie widerspiegeln will.
Ruhe zieht das Leben an, Unruhe ver-
scheucht es; Gott hält sich mäuschen-
still, darum bewegt sich die Welt um
ihn. Für den künstlerischen Menschen
nun wäre dies so anzuwenden, daß
er sich eher leidend und zusehend ver-
halten und die Dinge an sich vorüber-
ziehen lassen, als ihnen nachjagen soll;
denn wer in einem festlichen Zuge
mitzieht, kann denselben nicht so be-
schreiben, wie der, welcher am Wege
steht. Dieser ist darum nicht überflüssig
oder müßig, und der Seher ist erst
das ganze Leben des Geschehenen, und
wenn er ein rechter Seher ist, so kommt
der Augenblick, wo er sich dem Zuge

2. Iuliheft 1903

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