lich möchte ich auch noch an alle Arten allegorischer oder symbolischer
Dichtungen erinnern, wo jede Person und jedes Ereignis ihren dop-
pelten Sinn haben und wo man demgemäß gezwungen wird, geistig
zu schielen und zwischen zwei verschiedenen erdichteten Welten hin-
und herzupendeln.
Aber das sind Fälle besonderer Art. Jm allgemeinen hat jeder
schaffende Künstler das natürliche Bestreben, den Zuschauer im Banne
des einen illusionären Zustandes festzuhalten. Und es ist meist eine
gewisse Sorte von reproduzierenden Künstlern, vor allem von
Schauspielern, die mit dem Kunstwerke respektloser umspringen und
es für geistvoll halten, die verschiedenen Wirklichkeiten mit dem Scheine
durcheinanderzumengen.
Jch sage die verschiedenen Wirklichkeiten, denn es können
ihrer natürlich mehrere sein. So haben wir etwa bei einer Dar-
stellung von Goethes Egmont sowohl die historische Wirklichkeit, wie
die gegenwärtige des Theaterbesuchers von der dichterischen zu
scheiden; den Egmont der Dichtung, den herrlichen freien und kühnen
Menschen, der es wagt, das Leben wirklich leicht zu nehmen, von
dem niederländischen Staatsmann, der nur deshalb nicht floh, weil
ihm die Mittel fehlten, für seine elf Kinder zu sorgen, und ebenso
von dem Schauspieler So und So, der auf der Bühne die Rolle
des Egmont darstellt.
Goethe hat es mit einer beinahe wunderlichen Sorgfalt zu ver-
hindern gesucht, daß dem Hörer des Stückes die historische Wirklich-
keit zu unrechter Zeit einfalle und sich in die dichterische Jllusiort
dränge. Jn der letzten Szene, in der das Todesurteil Egmonts ver-
kündet wird, schließt dieses mit den Worten: „Gegeben Brüssel am" —
und dann folgt die Bemerkung: „Datum und Jahreszahl werden
undeutlich gelesen so, daß sie der Zuhörer nicht versteht". Man
könnte fragen, warum Goethe nicht ruhig den geschichtlich überlieferten
Tag der Verurteilung oder irgend ein beliebiges Datum angesetzt
habe. Fn Wirklichkeit wurde Egmont allerdings nicht, wie cs die
Oekonomie des Dramas verlangt, und wie es in dem Nachts zur
Verlesung kommenden Schriftstück heißt, noch „in der Frühe des ein-
tretenden Morgens mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht",
sondern es lag zwischen dem Tage der Verurteilung und der Voll-
streckung ein sehr langer Zeitraum. Und um es zu verhindern, daß
sich störende geschichtliche Erinnerungen beim Zuschauer einstellten,
also die historische Wirklichkeit mit dem poetischen Schein in Konflikt
gerate, erließ Goethe die fast pedantisch wirkende Vorschrift, daß Jahr
und Datum unverständlich zu lesen seien.
Ein Gegenbild zu dieser Sorgfalt zeigt das Gebahren des be-
kannten Schauspielers Karl Sonntag, das er in seinen Bühnen-Er-
lebnissen mit naiver Offenherzigkcit berichtet. Als er eines Tages
den Oranien spielte, wurde cr um irgend eines pcrsönlichen Klatsches
willen beim Auftreten mit Zischen empfangen. „Diese nnmotivierte
Teilnahme an meiner Person" — so berichtet er selbst — „beant-
wortete ich durch cine tiefe Verbeugung und durch starke Betonung
der ersten Worte Oraniens, die ich verdrehte: Was sagt Jhr zu dem
heutigen Empfang" — und erst nach einer Pause — „bei der Re-
lsy
2. Maiheft 1903
Dichtungen erinnern, wo jede Person und jedes Ereignis ihren dop-
pelten Sinn haben und wo man demgemäß gezwungen wird, geistig
zu schielen und zwischen zwei verschiedenen erdichteten Welten hin-
und herzupendeln.
Aber das sind Fälle besonderer Art. Jm allgemeinen hat jeder
schaffende Künstler das natürliche Bestreben, den Zuschauer im Banne
des einen illusionären Zustandes festzuhalten. Und es ist meist eine
gewisse Sorte von reproduzierenden Künstlern, vor allem von
Schauspielern, die mit dem Kunstwerke respektloser umspringen und
es für geistvoll halten, die verschiedenen Wirklichkeiten mit dem Scheine
durcheinanderzumengen.
Jch sage die verschiedenen Wirklichkeiten, denn es können
ihrer natürlich mehrere sein. So haben wir etwa bei einer Dar-
stellung von Goethes Egmont sowohl die historische Wirklichkeit, wie
die gegenwärtige des Theaterbesuchers von der dichterischen zu
scheiden; den Egmont der Dichtung, den herrlichen freien und kühnen
Menschen, der es wagt, das Leben wirklich leicht zu nehmen, von
dem niederländischen Staatsmann, der nur deshalb nicht floh, weil
ihm die Mittel fehlten, für seine elf Kinder zu sorgen, und ebenso
von dem Schauspieler So und So, der auf der Bühne die Rolle
des Egmont darstellt.
Goethe hat es mit einer beinahe wunderlichen Sorgfalt zu ver-
hindern gesucht, daß dem Hörer des Stückes die historische Wirklich-
keit zu unrechter Zeit einfalle und sich in die dichterische Jllusiort
dränge. Jn der letzten Szene, in der das Todesurteil Egmonts ver-
kündet wird, schließt dieses mit den Worten: „Gegeben Brüssel am" —
und dann folgt die Bemerkung: „Datum und Jahreszahl werden
undeutlich gelesen so, daß sie der Zuhörer nicht versteht". Man
könnte fragen, warum Goethe nicht ruhig den geschichtlich überlieferten
Tag der Verurteilung oder irgend ein beliebiges Datum angesetzt
habe. Fn Wirklichkeit wurde Egmont allerdings nicht, wie cs die
Oekonomie des Dramas verlangt, und wie es in dem Nachts zur
Verlesung kommenden Schriftstück heißt, noch „in der Frühe des ein-
tretenden Morgens mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht",
sondern es lag zwischen dem Tage der Verurteilung und der Voll-
streckung ein sehr langer Zeitraum. Und um es zu verhindern, daß
sich störende geschichtliche Erinnerungen beim Zuschauer einstellten,
also die historische Wirklichkeit mit dem poetischen Schein in Konflikt
gerate, erließ Goethe die fast pedantisch wirkende Vorschrift, daß Jahr
und Datum unverständlich zu lesen seien.
Ein Gegenbild zu dieser Sorgfalt zeigt das Gebahren des be-
kannten Schauspielers Karl Sonntag, das er in seinen Bühnen-Er-
lebnissen mit naiver Offenherzigkcit berichtet. Als er eines Tages
den Oranien spielte, wurde cr um irgend eines pcrsönlichen Klatsches
willen beim Auftreten mit Zischen empfangen. „Diese nnmotivierte
Teilnahme an meiner Person" — so berichtet er selbst — „beant-
wortete ich durch cine tiefe Verbeugung und durch starke Betonung
der ersten Worte Oraniens, die ich verdrehte: Was sagt Jhr zu dem
heutigen Empfang" — und erst nach einer Pause — „bei der Re-
lsy
2. Maiheft 1903