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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 17 (1. Juniheft 1903)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0296

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lassen sich nicht in die Schranken eincr Persönlichkeit bannen. Dies
erklärt uns die gewaltige Kraft der Allergrößten — ihr Geist er-
gießt sich von selbst. Ein neuartiger Geist strömt Tag und Nacht
in konzentrischen Kreisen von dieser Quelle aus und gibt sich aus
unbekannte Arten kund. Da wird uns klar, in welch innigem Vereiu
alle Geister stehen. Was dem einen zu Teil wird, läßt sich dcm
andern nicht vorenthalten; der geringste Gewinn an Wahrheit oder
Kraft, gleichviel aus welchem Gebiet, er kommt der Gemeinschaft der
Geister zu gute. Die anscheinend ungleiche Verteilung vou Talent
und Stellung erweist sich bereits als Jrrtum, wenu wir die nötige
Zeit auf unsere Beobachtung verwenden — um wie viel schneller
verschwindet die scheinbare Ungerechtigkeit, wenn wir zu dem Mittel-
punkt emporsteigen, wo alle Jndividualität aufhört, wenn wir wissen,
daß alle Jndividuen aus der Substanz hervorgegangen sind, die da
ordnet und schafft.

Der Genius der Menschheit — von diesem Gesichtspunkt aus
müssen wir die Weltgeschichte betrachten. Die Eigenschasten bleiben;
die Menschen, die ihre Träger sind, haben bald mehr, bald weniger
und schnell sind sie dahin; die Eigenschaften aber bleiben auf einer
anderen Stirn. Das ist eine Alltagsweisheit. Einst sah man Phönixe;
sie sind dahin, aber darum ist die Welt noch nicht entzaubert. Die
Gefäße, an dencn wir heilige Schriftzüge lasen, sie haben sich als
gemeine Töpferware erwiesen; aber der Sinn der Bilder blieb ge-
heiligt, und wir können sie noch heute an Wänden lesen, die eine
Welt bedeuten.

Eine Zeit lang waren unsere Lehrer für uns von persönlichem
Nutzen; sie waren Maßstäbe oder Meilensteine unserer Fortschritte.
Mit ihren Kenntnissen erschienen sie uns wie Engel, und ihre Ge-
stalten ragteu zum Himmel empor. Dann rückten wir ihnen näher
und erkannten ihre geistigen Mittel, ihre Bildung und die Grenzen
derselben. Da rückten an ihre Stelle andere Geister. Wohl uns,
wenn ein paar Namen so hoch bleiben, daß wir nicht im stande
waren, sie in der Nähe zu lesen, wenn Alter und Vergleichung mit
anderen ihnen keinen Strahl ihres Ruhmes zu rauben vermochteu.
Zuletzt aber werden wir es aufgeben, nach einem ganz vollkommenen
Menscheu zu sucheu, wir werden uns an der ihnen eigenen Größe
im Rahmen der menschlichen Gesellschaft genug sein lassen. Alles,
was mit dem Jndividuum zusammenhüngt, ist vorübergehend und
weist auf die Zukunft hin, wie das Jndividuum selbst, das aus dcn
Schranken seines Lebens zu einem uneingeengten, allumfassenden Da-
sein emporstrebt. Niemals ist uns das Verständnis für das Echteste
und Beste an einem Genius aufgegangen, so lange wir in ihm eine
völlig ursprüngliche Kraft erblicken. Von dcm Augenblicke an, wo
er uns nicht mehr als eine „Ursache" hilft, beginnt er uns als „Wir-
kung" zu helfen, und hilft uns weit mehr. Denn nun erscheint cr
als Exponent eines größeren Geistes und Willens. Das undurch-
sichtige Selbst wird vom Licht des Ur-Grundes erhellt und läßt dieses
Licht durchscheinen.

Jndessen, so beschränkt menschliche Erziehung und Entwicklung
sind, sv können wir doch sagen: große Menschen sind dazu da, damit

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