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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 24 (2. Septemberheft 1903)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0711

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denn mit der Befreiung der Stadt von der Blockade waren auch zur
Stunde ganze Wagen mit Lebensmitteln eingetroffen. Man athmete
wieder frei, man kam wieder zur Besinnung, und die häuslichen Ver-
hältnisse ordneten sich allmählich wieder. . .

Wenn meine Eltern des Abends dann und wann beim alten
Zingg waren, lietzen sie mich gewöhnlich unten im Gewahrsam der
Hausfrau und ihrer beiden Töchter. Es war eine düstere, hohe und
sehr winklige Stube, sauber aber rumplig und verräuchert. Jn einem
der Winkel war das Gemach horizontal getheilt und die obere Hälste
ein eingefügter Holzverschlag, zu welchem man auf einer Leiter hin-
ausstieg. Dies nannte man cine Kuhkanzel und war das Schlafgemach
der Mädchen.

Da satz ich nun oft des Abends mit Milchen, die ein paar
Jahre älter war als ich, bci einem trüben Küchenlämpchen unter be-
sagter Kuhkanzel, und da sie sehr bewandert war in allerhand Ge-
schichten und Märchen, so gab sie deren zum besten. Jch hörte hier
das Märlein vom Aschenbrödel mit bcsonderem Wohlgefallen von ihr
vortragen, wobei ich immer ganz entzückt und verwundert bald das
hübsche, rosige Gesicht, bald die gelben Haare betrachtete, die so reizend
vom Lämpchen beleuchtet waren, und bald war mir das Märchenbild
und die Erzählerin zu einer Person verschwommen.

Hier aus dieseni Rembrandt'schen Helldunkel leuchteten mir zuerst
die schönen, alten Geschichten entgegen; zwei rothe Mädchenlippcn und
zwei gläubige Kinderaugcn warcn die lebendigen Verkünder einer
Wunderwelt, die nicmals alternd in ewiger Jugcnd grünt und duftet.
Solch gcnügsame Armuth, glüubige Einfalt und Herzensreine, wie
hier sich vorfanden, sind wohl auch die Gcburts- und Pflegstätte —
das heiligs Bethlehem — dieser uraltcn Dichtungen gewesen. Wer
das Ohr auf diescn Waldbodcn niederlegt, der vernimmt das mäch-
tige Rauschen eines verborgenen Quells, den Herzschlag des deutschen
Volkes . . .
 
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