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Münchner kunsttechnische Blätter — 7.1910/​1911

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Nr. 1
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Waetzoldt, Wilhelm: Farbenerlebnis und Kolorismus
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Anfragen und Beantwortungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.36591#0008

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4

Münchner kunsttechnische Blätter.

Nr. i.

tisches Verhaken den Dingen gegenüber be-
stimmen. So giiedern wir das gewohnte Wettbiid
mit Hiife der Farben nach erfahrenen Zusammen-
hängen unter dem Einflüsse von Gedächtnis,
Uebung und Aufmerksamkeit. Da wir meistens
die Farbe ais soiche nicht beobachten, sie uns
vielmehr nur als Zeichen dient, die Dinge wieder-
zuerkennen und zu unterscheiden, entgehen uns
die mit der Beleuchtung wechselnden Wahr-
nehmungsfarben, wir sehen vielmehr nur die Ge-
dächtnisfarben der Dinge, d. h. diejenigen, die
am häufigsten gesehen wurden und sich deshalb
unserem Gedächtnis eingeprägt haben. Auch
haftet unser Auge für gewöhnlich gar nicht an
einer Einzelfarbe, es eilt sofort weiter, um die
Vielheit von Farbeneindrücken ins Körperliche
und Räumliche umzudeuten.
Neben dieser ersten allbekannten Möglich-
keit des Farbensehens gibt es nun aber eine
zweite, in der wir die Aussenwelt nur „auf Farbe"
hin ansehen. In diesem Falle fassen wir die bunte
Wirklichkeit nicht auf als sichtbaren Ausdruck
gegenständlich und räumlich vorhandener Dinge,
sondern gleichsam als einen Teppich, der einzig
aus einer flächenhaften Mannigfaltigkeit heller
und dunkler, so oder so gefärbter Flächen und
Flecke besteht. Jetzt deuten die Farben nicht
mehr unser Sehbild, sie sprechen vielmehr rein
als sinnliche Reize verschiedener Art und Stärke
zum Auge. Es findet also eine Zurückführung
des praktischen, von Vorstellungen durchwebten
Sehens auf die blossen sinnlichen Eindrücke statt.
In der gewohnten Betrachtung der Dinge aus der
Nähe können wir uns nur mit Hilfe genauer
Selbstbeobachtung die Augenblicke zum Bewusst-
sein bringen, in denen das Gesichtsfeld von einem
Nebeneinander farbiger Flecken gefüllt wird.
Dieses impressionistische Sehen kann man
absichtlich herbeiführen, indem man entweder so
weit von den Dingen zurücktritt, dass ihr Form-
charakter nicht mehr zu erkennen ist und sie
rein als Farbenexistenz erscheinen, also im „Fern-
bilde", oder indem man sich ungewohnte Anblicke
der Aussenwelt verschafft. Bei einer ungewohnten
Anordnung der Gesichtseindrücke, z. B. beim
Durchblicken zwischen den Beinen (Helmholtz'
Versuch), kann sich der Einfluss der seelischen
Gesetzmässigkeiten (Uebung, Gewöhnung, Ge-
dächtnis) auf das Sehen nicht mehr geltend
machen. Infolgedessen sehen wir die Wahrneh-
mungsfarben statt der Gedächtnisfarben; alle
Farbentöne scheinen an Reinheit und Kraft ge-
wonnen zu haben, sie treten in ihren Abstufungen
deutlicher hervor als im gewohnten Sehen, dafür
sind aber die formalen und räumlichen Zusammen-
hänge unverständlich geworden.
Farben dienen nicht nur als Raum- und Gegen-
standszeichen und auch nicht nur als Sinnesein-
drücke, sondern auch als Stimmungsträger. Ver-

schiedene Grade von Lust und Unlust scheinen
bestimmten Farben als Eigenschaften — ent-
sprechend der Helligkeit oder Sättigung — zu-
zugehören. In einer dritten Sehweise, der emo-
tionellen, erleben wir die Sichtbarkeit der Welt
als eine Ordnung von Farben verschiedener Ge-
fühlsstärke. Manche Farben und Farbenzusammen-
stellungen wecken eine freudige, manche eine
wehmütige Stimmung, einige können das Lebens-
gefühl herabstimmen, andere es steigern. Auf-
regung und Beruhigung, Spannung und Lösung
unserer seelischen Kräfte sind abhängig auch von
Farbeneindrücken. Es gibt emotionell ausgespro-
chene und emotionell unentschiedene Farben. Für
gewöhnlich freilich klingen beim Sehen der Farben
ihre Stimmungswerte nur an, sie geben der prak-
tischen oder impressionistischen Sehweise einen
Lust- oder Unlusteinschlag. Von dem eigentüm-
lichen Stimmungsumschlag, den Farben hervor-
zurufen imstande sind, kann man sich z. B. über-
zeugen, wenn man dieselbe Landschaft nacheinander
durch verschiedenfarbige Gläser betrachtet. Nun
gibt es aber auch Situationen, die den Gefühls-
charakter der Farben isolieren; in Rauschzuständen
aller Art treten Erkenntnis- und Eindruckswert
der Farben fast völlig zurück hinter ihrem Stim-
mungswert; mit dem Erschlaffen der geistigen
Spannkraft löst sich das optische Weltbild auf in
ein formloses Wogen von Farben, das dumpfe
Gefühlszustände in uns hervorruft. Phantasie und
Traum gar können — ihren eigenen Gesetzen
folgend -— eine Auswahl unter unseren Erinne-
rungsbildern optischer Natur treffen, die uns
Farben von beglückendster und erschreckendster
Gewalt vor das innere Auge führt.
(Schluss folgt.)
Anfragen und Beantwortungen.
Herrn F. B. in Bremen. — Ueber den Stand und
die Chancen des „Deutschen Farbenbuches" wird
in einem uns vorliegenden Artikel eingehender be-
richtet werden, insbesondere wird darin auch die Frage,
die Sie in Ihrer Zuschrift stellen: Welche Vorteile
werden die Künstler von der Schaffung eines
„Deutschen Farbenbuches" zu gewärtigen
haben?, behandelt. Dass sich die Vorarbeiten schon
einige Jahre lang hinziehen, liegt in den mancherlei
Schwierigkeiten, die mit der Herausgabe eines solchen
Farbenbuches in Verbindung stehen und auch an dem
Widerspruch, den bestimmte Forderungen der Konsu-
mentenkreise von seiten der grossen Farbenfabrikanten-
verbände gefunden haben. Das Thema „Farbenbuch"
steht auf den Tagesordnungen des alljährlich ab-
gehaltenen „Allgemeinen Deutschen Malertages", und
auch in diesem Jahre ist die Forderung nach dem
baldigen Zustandekommen eines die Handelsbräuche
im Verkehr mit Mal- und Farbenmaterialien regelnden
Buches auf dem Malertage zu Elberfeld neuerlich ge-
stellt worden. Die Beschlüsse der Nürnberger Ver-
sammlung, an denen auch in der Hannoveraner Tagung
festgehalten wurde, ünden Sie abgedruckt in Nr. 24,
II. Jahrg. dieser Blätter. B.
Verlag der Werkstatt der Kunst (E. A. Seemann, Leipzig).
 
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