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Münchner kunsttechnische Blätter — 7.1910/​1911

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Nr. 2
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Waetzoldt, Wilhelm: Farbenerlebnis und Kolorismus, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.36591#0010

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Münchner kunsttechmsche Blätter.

Nr 2

Nebel und Wasser, Sonne und Luft. Die Ein-
druckskunst ist vorwiegend Stiiiebenkunst. Eine
notwendige Voraussetzung der impressionistischen
Gestaitungsweise biidet das Fernbiid. Solange
wir — wie im Nahbiide — verschiedene Augen-
einstellungen nötig haben, um einen Wirklichkeits-
ausschnitt zu sehen, sehen wir räumlich und
körperlich. Erst im Fernbilde lässt sich mit
einem Blick das flächige Nebeneinander der
Farbenabstufungen länger als für einen Augen-
blick erfassen. Daraus ergibt sich für den Bild-
betrachter die Forderung, nun seinerseits so weit
von einem impressionistischen Bilde zurückzutreten,
bis er den beabsichtigten Eindruck des Fern-
bildes erhält. Erinnern wir uns ferner der schein-
baren Farbenveränderungen bei ungewohnten An-
blicken, so werden auch die ungewöhnlich reinen
und starken Farben dieses Stiles verständlich.
Aus der Absicht, die sinnliche Seite des Farben-
erlebnisses zu gestalten, erklärt sich die impres-
sionistische Technik. Das Nebeneinandersetzen
ungemischter reiner und gesättigter Farbenflecke
und -flächen wendet sich an die Tätigkeit des
Gesichtssinnes, denn erst auf der Netzhaut des
betrachtenden Auges vollzieht sich die Synthese
der koloristischen Elemente. Erscheint uns die
Farbengebung dieses Stiles nicht so vertraut wie
die des klassischen Kolorismus, so ist doch auch
sie die Darstellung einer natürlichen Sehweise,
freilich nicht der alltäglichen. Fragt man, worin
denn der Ersatz besteht, den uns der impressio-
nistische Kolorismus für den Verlust an Erkenn-
barkeit, Bedeutung und Seelcnhaftigkeit seiner
Bilder erstattet, so ist zu antworten: wir gewinnen
in diesen Schöpfungen eine Feinheit, Vielfältigkeit
und Lebendigkeit der farbigen Bilderscheinung,
wie sie der klassische Kolorismus innerhalb seiner
künstlerischen Absichten und mit seinen Mitteln
nicht zu geben vermag. Vor allem aber müssen
wir begreifen, dass es sich hier nicht etwa um
eine zufällige — womöglich von Malern der
Gegenwart erfundene —, sondern um eine not-
wendige und ihrem Wesen nach zeitlose, weil in
der Natur unseres Sehens begründete, Erscheinung
handelt. Die Sache war schon lange vor dem
Namen da; die alten Meister (z. B. der alte
Rembrandt, Vermeer van Delft, Theotocopuli,
gen. il Greco, Guardi, Goya u. a. m.) kannten
und verwendeten diesen koloristischen Stil, weniger
ausschliesslich zwar als die modernen „Impressio-
nisten", aber sie taten es doch.
Neben die koloristische Erfahrungskunst und
Eindruckskunst tritt als dritter Stil die koloristische
Stimmungskunst. Sie ist das Ziel eines emo-
tionellen Kolorismus, der in seinen Bildern jene
Sehweise darstellt, die beherrscht wird von den
Stimmungswerten der Farbe. Dieser Stil kann
seine Motive gewinnen durch Steigerung aller
Farben nach der Gefühlseite hin innerhalb der

praktischen oder impressionistischen Sehweise
(z. B. Grünewald auf den Kolmarer Altarbildern),
oder durch Verwendung bestimmter Farben als
Ausdrucksfaktoren für seelische Vorgänge, etwa
in der Stimmungslandschaft und im Stimmungs-
porträt (z. B. Boecklin), oder schliesslich durch
Gestaltung aus der Alltagswelt herausgelöster
stimmungsvoller Farbenerlebnisse in Traumbildern,
Ekstasen, Rauschzuständen, in Hypnose usf. (Munch).
Von Bedeutung und Deutlichkeit des Gegenständ-
lichen wird die reine Stimmungskunst absehen
müssen, weil jede Beanspruchung der Aufmerk-
samkeit einen Verlust an Stimmung beim Be-
trachter mit sich bringt. Auch dieser Stil passt
seine Technik seinem Wollen an. Der Gefühls-
wert einer Farbe spricht erst, wenn sie eine ge-
wisse Flächenausdehnung innerhalb des Bildes
besitzt, der emotionelle Kolorismus kann daher
den punktförmigen Farbenauftrag nicht brauchen,
er arbeitet mit grösseren Flächen reiner oder
gebrochener Farben. Gegenüber dem analytischen
Verfahren der impressionistischen Technik ist die
Arbeitsweise dieses Stiles durchaus synthetisch.
Man tut seinen Bildern unrecht, wenn man sie
an der Aussenwelt, anstatt an unseren Stimmungs-
bedürfnissen, an der Welt der Gefühle und Affekte
in uns misst. —
Die Behauptung, dass sich das Wesen der
Malerei in der Gestaltung des Farbenerlebnisses
erschöpfe, wäre übertrieben und würde von
mangelnden geschichtlichen Kenntnissen zeugen.
Wer die Begriffe Kolorismus und Malerei sich
decken lässt, verweist damit ganze Epochen der
Malerei und das Lebenswerk grosser Künstler
(z. B. das Michelangelos) aus dem Bereiche der
malerischen Kunst. Gewiss mit Unrecht! Die ein-
seitige Heraushebung der farbigen Erscheinungen
aus dem Lebenzusammenhange ist eine der
wichtigsten — heute durchaus im Vordergründe
künstlerischer Bemühungen stehende — und mit
dem Material und den Arbeitsbedingungen der
Malerei eng verwachsene Aufgabe dieser Kunst,
aber nicht ihre einzige. Freilich lassen sich —
da unser optisches Weltbild, wie wir sahen, sich
aus Farbenempfindungen auf baut — auch der
Raum, eine Handlung, eine Porträtfigur usw. für
gewöhnlich nicht ganz farblos geben. Die Do-
minante kann in solchen Darstellungen aber das
Dreidimensionale, der Bewegungseindruck oder
die Veranschaulichung einer Seelenhaftigkeit sein.
Von einer koloristischen Tendenz der Malerei,
von ihr als Farbenkunst sprechen wir erst
dann, wenn ein Bild nicht nur mit Farben gemalt
ist, weil eben die Natur farbig ist, sondern wenn
es von vornherein auf Farbe hin gedacht ist,
wenn seinem Maler das Farbendasein vor Raum-
und Körperdasein gegangen ist. In diesem Falle
wird der Künstler sich aber auch für eine der
typischen, in der Natur des Farbenerlebnisses
 
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