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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 1
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Fries, Heinrich de: Versuch einer Analyse der Linienstile (Gotik und Rokoko)
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Hesse, Hermann: Es war einmal
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0033

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Versuch einer Analyse der Linienstile (Gotik und Rokoko).

artigen Wege er sein Ziel erreicht. Er kann weder die
Flache noch die Linie entbehren, aber er nimmt ihnen
den letzten Rest von Körperlichkeit, so daß die Technik
seiner Zeichnungen ihrem phantastischen Inhalt durchaus
konform geht. Er verrücktet die Flache nicht, indem er
ihre Kontur auslöst und indem er eben diese Flache zer-
gliedert, das würde ihr eigentliches Wesen nicht treffen,
sondern er deckt sie einfach gleichmäßig schwarz ein. Es
ist der gleiche Grund, warum eine Silhouette körperlos
erscheint. Ein ähnliches Motiv findet schon auf griechischen
und etruskischen Vasenbildern Verwendung. Und die
Linie, deren üppig spielerische Handhabung der eigent-
liche Zweck der Zeichnungen Beardsleys zu sein scheint,
löst er auf in unzählige kleine Punkte und nimmt ihr so
den letzten Rest von Körperhaftigkeit. Nun ist nichts mehr
in diesen Blättern, wie Pierrot lunaire und die phantasti-
sche Ausgestaltung seines eigenen Sterbens, das der ge-
wollten Schemenhaftigkeit seiner Gestalten widerspräche.
Weiter kann nicht gegangen werden. Die technischen
Möglichkeiten sind erschöpft. Beardsleys Zeichnungen
bedeuten den Höhepunkt einer Epoche destruktiver Kultur,
wie sie sich gleichzeitig im Leben und in der Literatur der
englischen Nation (Oskar Wilde) manifestiert. Seine
Zeichnungen sind auch in anderer Hinsicht von höchstem
Interesse. Auch hier finden wir »nieder den Einfluß des
Orients, und zwar ist es der eigenartige Charakter der
neuentdeckten japanischen Kunst, deren Art der Flächen-
behandlung er als für seinen Zweck geeignet übernimmt
und zur letzten Konsequenz führt. Auch sein Hang zur
spielerischen Behandlung der Linie und zur reichsten Ent-
faltung des dekorativ ornamentalen Beiwerkes findet hier
entscheidende Anregung. Und noch ein weiterer Umstand
ist es, der in Verbindung mit dem ebenDaraelegten alles
Gesagte nur wieder zu bestätigen scheint. Nachdem in
seinen früheren Arbeiten die Haltung seiner Figuren und
ihre Behandlung etwas von dem strengen asketischen
Geist der Gotik atmen, entnimmt er zur Zeit seiner künst-
lerischen Reife Kostüm und Dekoration seiner Figuren
dem Rokoko, weil er in der Gewandung seiner eigenen
Epoche seinen» Hang zur spielerischen Entwicklung der
Linie nicht Genüge leisten kann, und »veil diese Epoche ein
eigenes dekoratives Element nicht kennt. Und auch bei
Beardsley tritt der scbon öfter betonte charaktcristiscbe
innere Widerspruch zutage. In der Technik äußerster
Drang nach Entmaterialisierung, Körperlosigkeit, Tran-
szendenz, im Thema seiner Zeichnungen ausgeprägteste
Sinnlichkeit. Und »nieder schaut uns das Doppelgesicht
einer Epoche an, das schon ihren Vorgängerinnen zu
eigen war.
Ich bin am Ende. Wir stehen, nach einen» halben
Jahrhundert größter Verwirrung, innerer Leere und
Kraftlosigkeit, an» Eingang einer neuen Epoche. Wir
möchten so gern das, was eben hinter uns liegt, als eine
abgescblossene Vergangenheit betrachten, die, wertlos in
ihrer parodierende»» Kopie und in der Wahl pomphafter
Masken für ein charakterloses Gesicht, den» Wollen der
Zukunft nur unnützer Ballast wäre. Aber »vir konnten
aus ibr lernen, was überwunden »verden muß. Wir
fühlen überall den leidenschaftlichen Willen, das Ringe»»
nach dieser Ausdrucksform eines Stils unserer Zeit, und
eine ganze Reibe künstlerisch hochstehender Werke gebe»»

Kunde von der ehrlichen Überzeugungskraft, die hinter
diesen» Willen steht, wenn auch diese Zeit es zu einer
distinkten, alles verbindenden Form» noch nicht gebracht
hat, die »vir als ihre»» Stil bezeichnen können. Auch »vir
Heutigen versuchen, Fuß zu fasse»» auf der Kunst des
klassische»» Griechenlands, und van de Veldes Bekenntnis-
schriften fixieren den Wille»» und den Weg zur neuen
Kunst. Dieser Wille ist da und offenbart sich ii» viel-
fältigster Gestalt. Es fehlt nur der große, alles gleich-
zeitig erschütternde Anstoß, der den Begin»» einer neuen
Zeit immer zu bezeichnen pflegt, um diese»» Willen als
Ausdruck des absoluten Wertes unserer Kultur ii» Form
eines alles verbindende»» Stiles zu kristallisieren. s580sj
H. de Fries.
/'Ls war einmal.
Von Hermann Hesse.
Jeder Ort, an dem »vir eine Weile leben, gewinnt
erst einige Zeit nach den» Abschiednehmen eine Form ii»
unseren» Gedächtnis und wird zu eine»»» Bilde, das un-
veränderlich bleibt. Solange »vir da sind und alles vor
Augei» haben, sehe»» »vir noch das Zufällige und das
Wesentliche fast gleich betont, erst später erlischt das
Nebensächliche. Unsere Erinnerung behält nur das, was
des Behaltens wert ist; »vie könnten »vir sonst ohne Angst
und Schwindelgefühl auch nur ein Jahr unseres Lebens
überschauen!
Zu jenem Bilde, das eii» Ort uns hinterläßt, gehöre»»
viele Dinge, Wasser und Fels, Dächer und Plätze, für
mich aber an» meisten die Bäume. Sie sind nicht nur
an sich schön und liebenswert und stellen den» Menschen-
wesen, das sich in den Bauten ausspricht, die Unschuld
der Natur entgegen; man kann außerdem auch viel aus
ihnen ersehen, über Art und Alter des Kulturbodens,
über Klima und Wetter sowie über dei» Sinn der
Menschen. Das Dorf an» Bodensee, in den» ich manche
Jahre gelebt habe, kann ich mir ohne Pappel»» nicht vor-
stellen, so wenig »vie dei» Gardasee ohne Olive»» und
Toskana ohne Zypressen. Andere Orte sind mir undenk-
bar ohne ihre Linden oder Nußbäume, und zwei oder
drei sind mir dadurch erkennbar und merkwürdig ge-
worden, daß sie gar keine»» Baumwuchs haben. Eine
Stadt oder Landschaft aber, ii» der keine Art von Gehölz
vorherrscht, wird mir nie ganz zum Bilde und behält für
mein Gefühl stets etwas Charakterloses. Ich kenne eine
solche Stadt, ich lebte als Knabe zwei Jahre ii» ihr, und
sie ist mir trotz so vieler Erinnerungei» als Bild fremd und
gleichgültig geworden »vie eii» Bahnhof.
Eine richtige Kastanienstadt habe ich schon lange nim-
mer gesehen; das fällt mir ein, so oft ich in der Nachbar-
schaft einmal hier oder dort eine einzelne schöne Roß-
kastanie stehen sehe, oder mit Bedauern in manchen
Dörfer»» die schäbige»» kleinen Gartenwirtschaftskastanien
wahrnehmc. Wem» die wüßten, »vie Kastanie»» aussehen
können! Wie mächtig sie dastehen, »vie üppig sie blühen,
»vie tief sie rauschen, wie satte volle Schatte»» sie werfen,
»vie sie in» Sommer von ungeheurer Fülle schwellen und
wie in» Herbst ihr goldbraunes Laub so dick und weich-
massig liegt!

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