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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 5
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Münzel, Gustav: Der Gang
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0183

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Der Gang.

war das Aussehen der Sängerinnen. Sie saßen zurück-
gelehnt in ihren Stühlen, ihre Hände ruhten verschränkt
in ihrem Schoße und den Kopf hielten sie ein wenig
nach oben gerichtet. Ihr Mund wölbte sich in einem
zitternden Bogen, in ihre welken Gesichter, die gespannt
waren vor innerer Erregung, trat eine ganz schwache
Farbe, und ihre Augen blickten geradeaus, ohne Ziel,
wie in unbestimmte weite Fernen gerichtet.
Eine tiefe Stille folgte dem Gesänge. Das Lied hatte
sie ergriffen, und sie hingen ihren Gedanken nach. Dann
kam aber auch die Befriedigung über den so gelungenen
Gesang hervor. Fräulein Johanna rühmte den schönen
Zusammenklang der Stimmen. Der Maler erkundigte
sich, ob nicht einige seiner Wirtinnen früher häufiger
gesungen hätten, und als es sich dabei herausstellte,
daß Frau Bachmeier als geschätztes Mitglied im Gesang-
verein mitgewirkt hatte, wurde sie aufgefordert, die Ge-
sellschaft auch noch mit einem Sologesänge zu erfreuen.
Sie ließ sich gern dazu bewegen, nachdem sie wegen einer
Indisposition um Entschuldigung gebeten hatte, und sang
mit vielem Beifall das Lied, das sie so oft von ihrem
seligen Manne gehört oder neben ihm auf dem Sofa
sitzend mit ihm zusammen gesungen hatte:
Ein Grobschmied saß in guter Ruh
Und rauchU sein Pfeif Tabak dazu.
Cidici daci dum,
Cidici daci dum.
Nach den gemeinschaftlichen Gesängen wurde noch
hin und her erzählt, der Maler erhielt noch manche liebe-
volle Ermahnungen, namentlich Empfehlung höchster
Vorsicht beider Auswahl seiner Zukünftigen, Abwen-
dung von so leicht trügenden äußeren Reizen und Hin-
wendung zur Gediegenheit des Charakters und sorg-
lichen Tüchtigkeit. Er mußte, trotzdem er tapfer ge-
gessen und getrunken hatte, noch etwas nehmen, davon
ließen sich die Frauen unter keinen Umständen ab-
bringen, und ein Stück Kuchen wurde ihm zum Mit-
nehmen eingewickelt.
Dann war es Zeit für ihn, aufzubrechen. Als er seinen
Wirtinnen mit herzlichen Dankesworten Lebewohl
sagte, nahm er aus den Blumensträußen, die ihm zu
Ehren auf dem Tische standen, für jede der Frauen zum
Andenken an diesen schönen Tag einige der Blüten
heraus, welche Aufmerksamkeit mit sichtlichem Wohl-
gefallen und von Fräulein Johanna in der Verwirrung
mit einem tiefen altmodischen Knicks ausgenommen
wurde. So standen sie mit ihren purpurnen, blauen
und weißen Blumen in den Händen in einem Halbkreis
um m Maler herum, als er ihnen zum Abschied die
Hand gab.
Das Fest war zu Ende. Die Frauen halfen Frau
Wibarius beim Aufräumen und zogen sich dann zurück.
Als Frau Wibarius allein war, machte sie sich, zugleich
unruhig und ermüdet von der Anstrengung, an ihrem
Ofen zu schaffen und saß dann versunken vor den Denk-
mälern ihrer Erinnerung, den dampfenden Äpfeln des
Herrn Wibarius. In ihren dumpfen Sinnen Wirkliches
und Erträumtes vermischend, saß sie da, und es war
ein schattenhaftes Wogen von Bildern in ihr, Bilder
aus einem ganzen Jahrhundert stiegen auf, verschwan-

den und glitten hinüber zu den Gedanken der Ewig-
keit. So saß sie mit geschlossenen Augen und dachte
und träumte.
Als die Frauen das Zimmer der Witwe verlassen
hatten, waren sie noch zu erregt, um allein sein zu
können, und sie gingen ein paarmal in den: Gange
auf und ab. Fräulein Anna Lautenbach schritt zwi-
schen Fräulein Johanna und Fräulein Josephine
dahin. Es war ein schöner Frühlingstag, an dem
tiefblauen Himmel zogen einige weißglänzende, ge-
ballte Wolken ihren Weg und die Kronen der Bäume
grüßten leichtbewegt aus dem Garten des Hauses über
den Hof herüber. Als Fräulein Anna dies sah, konnte
sie sich nicht enthalten, ein Fenster des Ganges zu öffnen,
und in schweren Wellen drang der Würzgeruch des Früh-
lings in den Gang und umfing die Frauen mit süßer Ge-
walt. Fräulein Anna atmete diese Leben bringende Luft
in tiefen Zügen. Die nachwirkende Stimmung des Festes
hatte ihr Herz weit geöffnet für die junge Schönheit
dieses Tages, und in plötzlicher Aufwallung faßte sie ihre
Nachbarinnen bei der Hand. Es war gar keine Schüch-
ternheit mehr in ihr, als sie ihnen sagte: „Wie schön ist
dieser Tag und wie schmerzlich ist seine Schönheit für
jemand, der alles verloren hat, was er liebte. Und
doch, was ist ihm Besseres geblieben, als an einem
schönen Tage des Verlorenen zu gedenken?" Die
beiden Alten hörten erstaunt Fräulein Anna zu, ver-
standen sie nicht ganz und nickten zustimmend nut dem
Kopfe. Eine dunkle Traurigkeit stieg durch diese Worte
in ihnen auf und in diesem Zustand blieben die beiden
nut Fräulein Anna noch eine geraume Weile zusam-
men stehen, ehe sie sich still und sinnend voneinander
trennten.
Unterdessen hatte Frau Bachmeier Fräulein Pauline
in ihr Zimmer geleitet. Ihr Gesicht war leicht gerötet,
und gerader als sonst ging sie neben ihrer Freundin.
Stolze und glückliche Gedanken lebten in ihr, sie sah im
Geiste den Maskenball im glänzend erleuchteten Saal
der Harmonie und im Gewoge der Menschen Bachmeier,
den Vielbegehrten, im Gewände des Trompeters von
Säckingen, von zahlreichen Lockungen umgeben. Dann
sah sie sich selbst, festlich geschmückt, und vor ihr stehend
die jubelnde Erscheinung Bachmeiers, den nichts anderes
hatte blenden können, hochbeglückt über die so viel ver-
heißende Gewährung einer erbetenen Rose.
Ganz erfüllt von diesen Erinnerungen erzählte sie
ihrer Freundin immer wieder davon und merkte es gar-
nicht, daß diese nicht antwortete. Es dauerte noch lange,
bis sie ging. Als Fräulein Pauline allein war, stellte
sie sich an das Fenster. Sie dachte an ihre Jugend und
an ihr Alter, an das einsame Verdorren ihres Lebens.
Wie sie sich gesehnt, geliebt zu werden und zu erfreuen,
und wie niemand die unscheinbare Blume beachtet hatte.
Mit ihren lichtlosen Augen blickte sie hinaus, stand lange
so und ging zurück an ihren Tisch. Da lag die Bibel,
und mit ihren alten, faltigen Händen blätterte sie in dem
heiligen Buche. Wie von ungefähr traf sie auf die freund-
liche Geschichte von Ruth, der Moabiterin. Und ihre
Augen wurden noch ein wenig lichtloser, als sie an die
Stelle kam: Es war auch ein Mann mit Namen Boas,
der war ein weiblicher Mann. f598^j

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