Tityos
357
hinter dem Jüngling mit ausgebreiteten Schwingen stehend, beugt
und senkt sich nach vorne über und hackt mit dem Schnabel nach
der Leber des Gefesselten. Rechts ein weidenartiger Baumstumpf,
dessen einer Ast in Form eines grotesken Thierkopfes gebildet ist.
Michelangelo hat sich offenbar nicht an die Schilderung Homers,
der die von Zeus über den Sohn der Gaia wegen Entehrung der
Leto verhängte Strafe durch zwei Geier vollziehen lässt (Od. XI,
576 ff., so auch Tibull, I, 3, 75 f.), sondern an die Virgils gehalten
(Aen. VI, 595 ff.):
Necon et Tityon terre omniparentis alumnum
Cernere erat, per tota novem cui jugera corpus
Porrigitur: rostroque immanis vultur obunco
Immortale jecur tondens foecundaque poenis
Viscera, rimaturque epulis habitatque sub alto
Pectore nec fibris requies datur ulla renatis.
Nicht als ein Abbild der Kraftlosigkeit, wie Polygnot ihn malte,
sondern in voller Macht der Glieder — wie Frey bemerkt — gab
ihn der Meister, der nach meinem Dafürhalten antike Darstellungen
des liegenden Prometheus, wie uns eine in einer kleinen Berliner
Gemme (Furtwängler: Die antiken Gemmen XXXVII, 40) erhalten
ist, wohl kannte.
Eine flüchtige Kreidestudie zu der Zeichnung fanden Ferri und
Jacobsen in den Uffizien (147b, 18 736. Thode 225. Abb. Ferri und
Jacobsen Taf. XIV. Phot. Brogi 1412 B). Die Stellung ist hier noch
etwas anders: das rechte Bein und der rechte Arm sind gerade
ausgestreckt, das linke Bein ist stärker gekrümmt. Der Adler ward
nur mit wenigen Strichen angedeutet.
Eine mir unbekannt gebliebene Kopie nach der Zeichnung in
Windsor von Alessandro Allori erwähnt Frey als in den Uffizien be-
findlich (Nr. 284).
In Betracht aber kommt noch ein anderer grossartiger, kühn
skizzirter Entwurf, den man bisher nicht beachtet hat, im Musee
Wicar zu Lille (Nr. 90; Thode 273). Er zeigt Tityos nach der
anderen Seite gewandt liegend, auf den linken Arm aufgestützt, den
rechten erhebend, beide Beine ausgestreckt. Der Adler beugt sich,
die Leber fressend, von links hinten herüber. Man dürfte in der
Skizze wohl den ersten Gedanken der Komposition gewahren.
Gestochen wurde die endgültige Darstellung von Beatrizet
(D. 33; B. 39) im Gegensinne. Das Blatt trägt die Inschrift: Titius
Gigas Vulture diversisque penis laceratus. Mich. A. B. invenit. Ant.
Salamanca excudebat. Landschaftlicher Hintergrund hinzugefügt.
Eine Kopie im Gegensinne: Ant. Lafreri formis. Im Berliner
Kupferstichkabinet sah ich einen von Gio. Jacomo Rossi (Formis
Romae 1649 alla Pace) veranstalteten Neudruck.
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hinter dem Jüngling mit ausgebreiteten Schwingen stehend, beugt
und senkt sich nach vorne über und hackt mit dem Schnabel nach
der Leber des Gefesselten. Rechts ein weidenartiger Baumstumpf,
dessen einer Ast in Form eines grotesken Thierkopfes gebildet ist.
Michelangelo hat sich offenbar nicht an die Schilderung Homers,
der die von Zeus über den Sohn der Gaia wegen Entehrung der
Leto verhängte Strafe durch zwei Geier vollziehen lässt (Od. XI,
576 ff., so auch Tibull, I, 3, 75 f.), sondern an die Virgils gehalten
(Aen. VI, 595 ff.):
Necon et Tityon terre omniparentis alumnum
Cernere erat, per tota novem cui jugera corpus
Porrigitur: rostroque immanis vultur obunco
Immortale jecur tondens foecundaque poenis
Viscera, rimaturque epulis habitatque sub alto
Pectore nec fibris requies datur ulla renatis.
Nicht als ein Abbild der Kraftlosigkeit, wie Polygnot ihn malte,
sondern in voller Macht der Glieder — wie Frey bemerkt — gab
ihn der Meister, der nach meinem Dafürhalten antike Darstellungen
des liegenden Prometheus, wie uns eine in einer kleinen Berliner
Gemme (Furtwängler: Die antiken Gemmen XXXVII, 40) erhalten
ist, wohl kannte.
Eine flüchtige Kreidestudie zu der Zeichnung fanden Ferri und
Jacobsen in den Uffizien (147b, 18 736. Thode 225. Abb. Ferri und
Jacobsen Taf. XIV. Phot. Brogi 1412 B). Die Stellung ist hier noch
etwas anders: das rechte Bein und der rechte Arm sind gerade
ausgestreckt, das linke Bein ist stärker gekrümmt. Der Adler ward
nur mit wenigen Strichen angedeutet.
Eine mir unbekannt gebliebene Kopie nach der Zeichnung in
Windsor von Alessandro Allori erwähnt Frey als in den Uffizien be-
findlich (Nr. 284).
In Betracht aber kommt noch ein anderer grossartiger, kühn
skizzirter Entwurf, den man bisher nicht beachtet hat, im Musee
Wicar zu Lille (Nr. 90; Thode 273). Er zeigt Tityos nach der
anderen Seite gewandt liegend, auf den linken Arm aufgestützt, den
rechten erhebend, beide Beine ausgestreckt. Der Adler beugt sich,
die Leber fressend, von links hinten herüber. Man dürfte in der
Skizze wohl den ersten Gedanken der Komposition gewahren.
Gestochen wurde die endgültige Darstellung von Beatrizet
(D. 33; B. 39) im Gegensinne. Das Blatt trägt die Inschrift: Titius
Gigas Vulture diversisque penis laceratus. Mich. A. B. invenit. Ant.
Salamanca excudebat. Landschaftlicher Hintergrund hinzugefügt.
Eine Kopie im Gegensinne: Ant. Lafreri formis. Im Berliner
Kupferstichkabinet sah ich einen von Gio. Jacomo Rossi (Formis
Romae 1649 alla Pace) veranstalteten Neudruck.