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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 12 (2. Märzheft 1900)
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Bei Ruskin und jenseits von ihm
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0457

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KeL Nuskm und jenseLts von Ldm.

Sie wollten ihm eine letzte Stätte in der Westminster-Abtei be-
reiten, aber seinem Willen gemäß ward John Ruskin schlicht aus dem
stillen Friedhos von Coniston üegraben. Jn der Westminster-Abtei sand
nur der feierliche Trauergottesdienst Londons statt, und es trauerte ganz
England. Man sprach davon, daß Englands letzter großer Genius da-
hingegangen sei. Man sprach davon, daß der gewaltige Ausschwung,
der das von Künstlern einst so verachtete England zu einem sührenden
Kunstlande gemacht, sein Werk sei. Und Ruskin war doch nur ein Kunst-
schriststeller! Wir Deutschen sragen uns staunend: wie konnte das sein?
Es lohnt sich auch sür uns, nachdenklich an Ruskins Sarg zu treten.

Aber wenn wir ihn „nur einen Kunstschriftsteller" nennen, thun
wir gut, bei diesem Wort recht viel mehr zu sehn, als wir sonst ge-
wohnt sind. Nicht an Kenntnissen; es hat wohl viele Kunstgelehrte ge-
geben, deren Wissen dasjenige Ruskins wert übertras. Aber zunächst an
Kunstgefühl, denn Ruskin war einer der Seltenen, die durchaus als
Künstler empfinden, und wie wenige sind Künstler nicht nur unter denen,
die über Kunst schreiben, sondern auch unter denen, die malen, meißeln
und bauen! Und neben dem Kunstgefühl hatte Ruskin den Lebensblick,
dieser Mann, der nie der tüchtigen Famuli Wagner Weise verstand, sich
auf ihr Museum zu beschränken. Er sah die Welt und sah sie nicht
nur am Feiertag. Das Sehen aber löste in ihm das Wollen aus, und
aus dem Wollen erstand ihm die That und so, daß fie als das End-
ziel aller seiner Thätigkeit weit leuchtender noch als das Erkennen strahlt.
Ruskin war Redner, Poet und Prophet. Freilich, verhehlen wir's nicht:
er war ein Redner, der sich oft selbst widersprach, ein Dichter, der sich oft
für Jrrtümer begeisterte, ein Prophet, der oft prophezeite, was nicht ein-
traf. Woher sein ungeheurer Einfluß?

John Ruskin war als Sohn eines begüterten Weinhändlers ge-
boren, der puritanisch strenggläubig und ein Kunst- und ein Naturfreund
war, viel reiste und den Knaben viel mit sich nahm. John lernte früh
zu beobachten und zu genießen. Jmmer im Verkehr mit der Natur und

Kunstwart 2. Märzheft ^900

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