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Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration — 7.1896

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Streiter, Richard: Das Deutsche Kunstgewerbe und die englisch-amerikanische Bewegung, [1]
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öeite s06.

ZIlustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Znnen-De koratio».

Zuli-Heft.

as deutsche

MMtgelverbe und die eilglisch-amerilranische

von Richard Streiter.

ewegung.*)

i.

jas deutsche Kunstgewerbe befindet sich gegenwärtig in einer Zeit der
Krisis. Das kann Niemandem zweifelhaft sein, der die letztsährigen
Erzeugnisse aus diesem Gebiete mit verständuißvoller Aufmerksamkeit

beobachtet hat, der von dem allge-
meinen Umschwung des Geschmacks,
von den auffallenden Verschiebungen
auf dem Weltmarkt, sei es durch
eigene Erfahrungen, sei es durch die
Berichte der Fachzeitschriften, Kenutniß
gewonnen hat. Die Krisis mußte
kommen; das war für den Einsichts-

Abbildung Nr. 28;. Thür-Dekoration, von H. Bäumer.

vollen seit Langem vorauszusehen; das lehrte deutlich genug die Ent.
Wickelung in den letzten zwanzig Jahren. Nach dem großen Krieg gegen
Frankreich hatte mit der allgemeinen Steigerung der wirthschaftlicheu
Leistungsfähigkeit, mit dem Erstarken des nationalen Selbstbewußtseins
im geeinigten Deutschland auch das Kunstgewerbe einen mächtigen, hoch-
erfreulichen Aufschwung genommen im engen Anschluß au „unserer Väter
Werke" aus der Blüthezeit des deutschen Bürgerthums. Die Münchener
Ausstellung von ^876 hatte den Sieg der deutschen Renaissance entschieden;
Münchener Künstler führten die immer weiter sich ausbreitende Bewegung;
man sprach mit vollen: Recht von einer „Münchener Renaissance". Die
Bewegung war in ihrem Anfang überaus gesund und heilsam. Sie erlöste
das deutsche Kunstgewerbe aus der Abhängigkeit vom Ausland, namentlich
von Frankreich, sie schulte die einheimischen Kräfte im eindringlichen Studium
der Meisterwerke deutschen Kunsthandwerks, sie verbreitete im Publikum
künstlerischen Geschmack und Stilgefühl für kunstgewerbliche Dinge, sie erweckte
Farben- und Formfreudigkeit, die in der Vede der vierziger und fünfziger
Jahre fast verloren gegangen war. Ls hieße historisch wie ästhetisch durchaus
ungerecht urtheilen, wollte man die hohe erzieherische Bedeutung jener
Richtung nicht anerkennen. Dennoch hat der Gang der Entwickelung rasch
über die erneuerte deutsche Renaissance hinweggedrängt. Warum wohl?
Nun, nachdem man sich einmal daran gewöhnt hatte, mit selbstloser Hingabe
in die Stimmung vergangener Kunstepochen sich zu versenken, erstreckte sich
dieselbe nachemxfindende Liebe naturgemäß auch auf die Schönheiten aller

Stilperioden, deren Schätze unsere Museen füllen. Und da man sich bei der
Pflege der deutschen Renaissance, wie des Barock und Rokoko auf eine
^ möglichst getreue Nachbildung der alten Muster beschräukte, so konnte keiner
dieser Stile mit den Lebensbedingungen unserer Zeit verwachsen. Deutsche
Renaissance, Barock, Rokoko, Empire-Stil beherrschten der Reihe nach in
den letzten 25 Jahren den Geschmack, aber nur äußerlich, als rasch wechselnde
Moden. Jetzt, nachdem wir in hastigein Lauf durch die Stilwandlungen
des t6., und ;8. Jahrhunderts bei der Biedermeierzeit angelangt sind,
stutzen wir. Jetzt müssen wir stutzen. Denn nun findet sich auf die Frage:
„Was nun?" nicht mehr so leicht eine Antwort, wie vorher, wo man einfach,
um etwas „Neues" zu bringen, aus einem Stil in den historisch nächst-
folgenden überging. Allgemach beginnt da und dort die Lrkcnntniß aufzu-
dämmern, daß wir trotz dieser Modestile oder Stilmoden eigentlich recht
stillos sind, daß wir um so stilloser bleiben, je mehr mir uns bemühen,
stilvoll, „echt" im engsten Anschluß an vergangene Kunstperiodon zu sein.

Doch noch immer sind die „stilvollen Einrichtungen" bei uns beliebt.
Sie sind ja so bequem für Leute, die keinen selbstständigen Geschmack haben.
Man bestellt beim Möbelfabrikautcn und Dekoratör den Salon im Empire-
Stil, das Zimmer der Dame in Rokoko, das Zimmer des 6errn gothisch
oder japanisch, das Speisezimmer in deutscher Renaissaucc; daun ist man
sicher, „künstlerisch" eingerichtet zu sein und nicht so leicht aus der Mode zu
kommen. Daß man in solchen Wohnungen mit den Thürschwelleu Jahr-
hunderte überschreitet, daß sich die „stilvollen" Möbel in den karakterlosen
modernen Miethwohnungen sehr merkwürdig ausnehmen, daß nnter die
„echten" Ausstattungsstücke eine Menge sehr wenig stilvoller, aber unver-
»leidlicher Gegenstände sich drängt, das unangenehm zu empfinden sind die
wenigsten feinfühlig genug. Welche Ironie, welche unfreiwillige Komik
aber in diesen „stilvollen" Einrichtungen liegt, zeigen uns drastisch die letzten
^ zwanzig Jahrgänge der „Fliegenden Blätter", deren Bilder aus dem modernen
Gesellschaftsleben von kulturgeschichtlicher Bedeutung sind. Wie leicht wird
eine „stilvolle Einrichtung" zur KarikaturI Es bedarf nicht erst der genialen
Hand Dberländers, um uns davon zu überzeugen. Man wird einwenden,
diese Karikaturen ergäben sich nur bei Leuten, die nicht Geschmack genug
besäßen, ihre Wohnung hübsch zusammenzustimmen. Aber wieviele Leute
gibt es denn, die diesen Geschmack besitzen und die nöthige kuusthistorische
Bildung dazu? Soll das Kunstgewerbe, die Kunstindustrie sich nach einigen
hundert Künstlern und Bankiers richten, die das verständniß oder das Geld
haben, sich eine Wohnung, ein Haus wirklich stilvoll eiurichten zu können?
Aber abgesehen davon: bleibt denn nicht für die in vollendetster weise im
Stil einer vergangenen Zeit eingerichtete Wohnung unter allen Umständen
eine schneidende Dissonanz bestehen, die Dissonanz zwischen der Raumaus-
stattung und den Menschen, die sich in dem Raume bewegen? Solange wir
modernen Menschen in unserer modernen Kleidung in Renaissance-, Rokoko-
oder Empire-Zimmern herumgehen, solange ist der Gesammteindruck nicht
stilvoll. Und selbst wenn wir uns zum Stil der Räume passend kostümiren
würden, würde jener Zwiespalt nicht aufgehoben; daun würden wir uns erst
recht als maskirt Vorkommen, wir würden erst recht die Kluft empfinden, die
zwischen unserem ganzen Menschen, unserem Denken, Fühlen, Wollen und
dem Geist jener Stile besteht, deren Formen uns umgeben. Moderne
Wohnungen streng im Stilcharakter einer vergangenen Zeit ausgestattet,
erscheinen wie Theaterdekorationen, in die die handelnden Personen nicht
hineingehören. Solange wir noch, um uns mit künstlerischem Hausrath zu
umgeben, den alten Hausrath iu deu Museen mehr oder minder getreulich
kopiren, solange thuu wir dasselbe, wie wenn wir, um einmal künstlerisch
gekleidet zu sein, das Kostüm einer vergangenen Zeit anziehen, wie wenn
wir für ein Kostümfest uns „möglichst echt" maskireu. Ls hat ja wohl
Zeiten gegeben, wo man in gewissen Kreisen eine Art von fortgesetzten»
Kostümfest feierte, z. B. in der Hofgesellschaft des Rokoko. Unser heutiges
Leben aber ist gewiß kein Kostümfest; es ist ernst, es ist ein Leben rastloser
Arbeit auf allen Gebieten, ein Leben voller praktischer Anforderungen, die
mit gleicher Unerbittlichkeit fast an Jeden herantreten. Diese praktischen An-
forderungen verlangen ihr Recht auch in der Kunst; aber sie sind nicht Feinde
der Kunst, wie viele glauben. Sie sperren sich nur gegen eine Kunst, die
nicht wahrhaftig ist, die nicht in deu Lebensbedingungen der Zeit wurzelt.

Es kann hier geltend gemacht werden, daß inan von den eigentlich
„stilvollen" Einrichtungen in letzter Zeit mehr und mehr abgekommen sei.
Man lasse alles nebeneinander sich gefallen, Möbel und Dekorationsstücke aus
den verschiedensten Stilen, wenn nur das Ganze künstlerisch fein zusammen-
gestimmt sei. Was dies betrifft, so ist zunächst festzustellen, daß die Forderung,
ein aus so verschiedenartigen Einzelstücken sich zusammensetzendes Ganze
künstlerisch fein zusammenzustimmen, wohl noch mehr Geschmack, noch inehr
künstlerische Bildung verlangt, als die Einrichtung einer Wohnung in einein
einheitlichen Stil, daß also diese Art der Wohnungsausstattung, wenn sie
durchaus befriedigen soll, noch mehr auf wenige Glückliche beschränkt bleibt,
 
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