Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1899)
DOI Artikel:
Hart, Julius: Das "Fragmentische" Lesedrama, [1]
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0061

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
künstlerische Welten von einander. Der Buchdramatiker ist dann nur noch ein
Pläneschmied, ein Woller und Nichtkönner, ein Dilettant, der bekannte Rasfael
ohne Arme. Der eigentliche Künstler aber ist das Theater, der Schauspieler,
der Dekorationsmaler, der Schneider, welche die Pläne erst ausführen. Ein
nicht aufgeführtes Drama ist nur ein unfertiges halbes Ding. Man mache
sich doch einmal klar, was dieser Satz aussagt, und das Ungeheuerliche, Groteske
dieser neunzehnten Jahrhunderts - Aesthetik muß Einem ja in die Augen
hineinbeißen.

Da muß ich denn doch zunüchst einmal bemerken, üaß ich für meine
Person die überwiegende Mehrzahl der dramatischen Werke, die ich kenne, nur
gelesen und niemals aufgeführt gesehen habe. Obwohl ich als berufsmäßigeu
Theaterkritiker ziemlich viel gesehen und einen großen, viel zu großen Teil
meines Lebens in den Schauspielhäusern vertrödelt habe. Aber von Buch-
dramen habe ich doch noch viel mehr verschlungen als von Bühnendramen..
Und das alles sind nur halbe unfertige Kunstwerke gewesen? Von den uns über-
lieferten dramatischen Schätzen der Weltliteratur, von den geschichtlich und
künstlerisch hervorragendsten Dichtungen befindet sich nur ein ganz geringer
Bruchteil in den Spielverzeichnissen unserer Theater. Die meisten von ihnen
sind nur dem lesenden Geiste zugänglich. Was hilft es mir, daß sie einmal in
China und in Jndien, in Athen, in Alexandria und Rom, in Spanien, Jtalien,
Frankreich und England bühnenmäßig dargestellt wurden, — für mich, für
uns sind sie nicht aufgeführt worden, — für diese unsere Zeit sind's keine Theater-
dramen mehr. Also tote Kunstwerke. Tot sind für mich Aischylos, Sophokles„
Euripides, Aristophanes, Plautus und Terenz, fast alles von Lope de Vega und
Calderon, das alte italienische Theater, Marlow, Ben Johnson, das Schauspiel
der Stürmer und Dränger und der Romantiker in Deutschland, die indische„
die chinesische Kunst. . . Wir, wir haben das alles nie aufführen gesehen, —
also sind für uns diese Dramen nur Bruchstücke, nur halbe unfertige Werke;
sinnlich lebendig können sie uns nie werden, weil sie die Bühne für uns nicht
mehr zur Darstellung bringt. Zu Beginn dieses Jahrhunderts waren die Jsf-
landschen und Kotzebueschen Schauspiele ganze und sertige Schöpsungen, —
heute sind sie nur noch Pläne und Entwürfe — sie sind auf eine für den mensch-
lichen Verstand völlig unbegreisliche Weise in den Embryonalzustand des Wer-
dens zurückgekrochen . . . Meines Wissens ist bisher der Kleistsche „Amphitryon"
noch niemals zur Aufführung gelangt* — also kennt ihn die Welt nur als
Torso eines Kunstwerkes, also besitzt sie nur ganz unklare und verschwommene
Vorstellungen vonihm. Aber wenn morgen Theaterdirektor und Schauspieler sich
des armen „Fragmentes" erbarmten und es „sinnlich verlebendigten", und wäre
es nur auf der Bühne von Buxtehude, — dann, ja dann auf einmal wäre der
arme schlotternde lemurische Poet Heinrich von Kleist ein ganzer Künstler ge-
worden, — und sein Werk muß nach dieser Meinung für die Welt auf einmal
als eine ganz neue Erscheinung dastehen, kein unfertiger Entwurf mehr, son-
dern nun erst eine sertige Schöpfung. . . Eine Reihe von Jahren hat es ge-
dauert, bevor die Goethische Faustdichtung aus den „Gräbern der Buchdramatik"
zum lichten Bühnendasein auferstand. Dilettanten führten bruchstückweise den
ersten Teil des Werkes auf. Bis zu diesem Augenblick also war der „Faust"

* Diese Zeilen sind bereits niedergeschrieben vor der Aufführung des
„Amphitryon" in einer Mittagsdarstellung des Vereins sür moderne Festspiele
zu Berlin im Winter ;898/9y.

49

2. Gktoberheft l8Z9
 
Annotationen