die germanische Ejgcntümlichkeit der starken Gegensätze wieder, so daß
man bei ihnen oft zwri statt eines Typus — man vergleiche Schiller
und Uhland, Hebbel und Klaus Groth — annehmen muß. Dennoch,
neben der Rasse ist der Stamm das wichtigste Moment bei der Be-
trachtung deutschen Wesens und Lebens, deutscher Literatur; auf ihm
baut sich der deutsche Jndividualismus auf, der es dann, aus allen Gegen-
sätzen Kraft ziehend, bis zur feinsten Verästelung bringt und auf künst-
lerischem Gebiet die Ausbildung eines nationalen Stils nahezu verhin-
dert, so mächtig und wirksam die Rasse-Eigenschaften auch zu allen
Zeiten bleiben.
Das vor allem ist denn das Charakteristikum deutscher Literatur,
deutscher Dichtung: das Persönliche überwiegt stets das Zeitliche, ja, das
Nationale und eben darum auch der Gehalt die Form; denn die Per-
sönlichkeit ist es, die dem Stoffe den Gehalt verleiht, während die Form,
bis zu einem gewisfen Grade wenigstens, von der Tradition abhängig
ist. Es soll damit keineswegs gesagt werden, daß die deutschen Geister
formlos wären, im Gegenteil, es sind große Künstler unter ihnen, aber
nicht die sinnliche, sondern die geistige Wirkung ist ihnen das Höchste,
und oft genug triumphiert der Geist auf Kosten der Sinnlichkeit. Ge-
wiß haben auch andere Literaturen alles überragende Geister, wie Dante
und Shakespcre (von denen der eine übrigens germanische Bestandteile
des Blutes haben kann, der andere wesentlich germanisch ist), aber die
gewöhnlichen Begabnngen unter ihnen sind konformer geprägt, weshalb
sie denn auch alle den nationalen und den Zeitstil meist viel ausgeprägter
haben als die deutschen; diese scheinen alle aus dem germanischen Volks-
tum unmittelbar hervorzuwachsen, das Medium der nationalen Tradition
spielt bei ihnen kaum eine Rolle. So ist die Geschichte der deutschen
Literatur, obschon sie doch auch ihre Gesetze hat, vielfach eine Geschichte
der Ueberraschungen. Man kann bei uns nie sagen, was kommt: plög-
lich treten Erscheinungen auf, die ganz neue Richtungen vorbilden, die
alles das scton haben, was dann die allgemeine Literatur-Entwicklung
langsam nachholt, ja, die oft so vereinzelt, so autochthon sind, daß sich
ihnen in den fremdcn Entwicklungen garnichts vergleichen läßt. Man
kann dies sogar als die Regel hinstellen: welche neuere europäische Nation
hat noch ein wirkliches Volksepos wie wir Deutschen? Bei welcher fände
sich ein Volksschriftsteller wie Luther? Bei welcher ein universaler Poet
wie Goethe? Aber selbst minder bedeutende Erscheinungen sind oft von
überraschendcr Selbständigkeit und viel früher da als die verwandten
Erscheinnngen bei anderen Nationen. So gibt Grimmelshausen, mag
er immerhin von dem spanischen Schelmenroman angeregt sein, den
ersten psychologischen Entwicklungsroman, lange vor Lesage und Fielding,
und nimmt sogar die Robinsonade vorweg, so gibt Lessing, ob er auch
von Diderot und den Engländern allerlei Einflüsse erfahren hat, die
erste wirkliche moderne Tragödie („Emilia Galotti"), so begründet Jere-
mias Gotthelf in unserem Jahrhundert den Naturalismus und die
Heimatkunst, und Friedrich Hebbel schafft lange vor Jbsen das Problem-
draina — von so allgemeinen in Deutschland entstehenden und dann
ganz Europa nach sich ziehenden Bewegungen wie die Nomantik ganz
abgesehen. Charakteristisch ist dann freilich, daß Deutschland diese „Vor-
gänger" gewöhnlich zunächst nicht in ihrer vollen Bedeutung erkennt und
2. Iannarheft lyoi
man bei ihnen oft zwri statt eines Typus — man vergleiche Schiller
und Uhland, Hebbel und Klaus Groth — annehmen muß. Dennoch,
neben der Rasse ist der Stamm das wichtigste Moment bei der Be-
trachtung deutschen Wesens und Lebens, deutscher Literatur; auf ihm
baut sich der deutsche Jndividualismus auf, der es dann, aus allen Gegen-
sätzen Kraft ziehend, bis zur feinsten Verästelung bringt und auf künst-
lerischem Gebiet die Ausbildung eines nationalen Stils nahezu verhin-
dert, so mächtig und wirksam die Rasse-Eigenschaften auch zu allen
Zeiten bleiben.
Das vor allem ist denn das Charakteristikum deutscher Literatur,
deutscher Dichtung: das Persönliche überwiegt stets das Zeitliche, ja, das
Nationale und eben darum auch der Gehalt die Form; denn die Per-
sönlichkeit ist es, die dem Stoffe den Gehalt verleiht, während die Form,
bis zu einem gewisfen Grade wenigstens, von der Tradition abhängig
ist. Es soll damit keineswegs gesagt werden, daß die deutschen Geister
formlos wären, im Gegenteil, es sind große Künstler unter ihnen, aber
nicht die sinnliche, sondern die geistige Wirkung ist ihnen das Höchste,
und oft genug triumphiert der Geist auf Kosten der Sinnlichkeit. Ge-
wiß haben auch andere Literaturen alles überragende Geister, wie Dante
und Shakespcre (von denen der eine übrigens germanische Bestandteile
des Blutes haben kann, der andere wesentlich germanisch ist), aber die
gewöhnlichen Begabnngen unter ihnen sind konformer geprägt, weshalb
sie denn auch alle den nationalen und den Zeitstil meist viel ausgeprägter
haben als die deutschen; diese scheinen alle aus dem germanischen Volks-
tum unmittelbar hervorzuwachsen, das Medium der nationalen Tradition
spielt bei ihnen kaum eine Rolle. So ist die Geschichte der deutschen
Literatur, obschon sie doch auch ihre Gesetze hat, vielfach eine Geschichte
der Ueberraschungen. Man kann bei uns nie sagen, was kommt: plög-
lich treten Erscheinungen auf, die ganz neue Richtungen vorbilden, die
alles das scton haben, was dann die allgemeine Literatur-Entwicklung
langsam nachholt, ja, die oft so vereinzelt, so autochthon sind, daß sich
ihnen in den fremdcn Entwicklungen garnichts vergleichen läßt. Man
kann dies sogar als die Regel hinstellen: welche neuere europäische Nation
hat noch ein wirkliches Volksepos wie wir Deutschen? Bei welcher fände
sich ein Volksschriftsteller wie Luther? Bei welcher ein universaler Poet
wie Goethe? Aber selbst minder bedeutende Erscheinungen sind oft von
überraschendcr Selbständigkeit und viel früher da als die verwandten
Erscheinnngen bei anderen Nationen. So gibt Grimmelshausen, mag
er immerhin von dem spanischen Schelmenroman angeregt sein, den
ersten psychologischen Entwicklungsroman, lange vor Lesage und Fielding,
und nimmt sogar die Robinsonade vorweg, so gibt Lessing, ob er auch
von Diderot und den Engländern allerlei Einflüsse erfahren hat, die
erste wirkliche moderne Tragödie („Emilia Galotti"), so begründet Jere-
mias Gotthelf in unserem Jahrhundert den Naturalismus und die
Heimatkunst, und Friedrich Hebbel schafft lange vor Jbsen das Problem-
draina — von so allgemeinen in Deutschland entstehenden und dann
ganz Europa nach sich ziehenden Bewegungen wie die Nomantik ganz
abgesehen. Charakteristisch ist dann freilich, daß Deutschland diese „Vor-
gänger" gewöhnlich zunächst nicht in ihrer vollen Bedeutung erkennt und
2. Iannarheft lyoi