ihre Errungenschaften über das Ausland beziehen zu müssen glaubt, bis
dann doch die Erkenntnis eintritt, daß man das Ersehnte schon hat und
oftmals besser hat als die Fremden. Das ist die große Originalität
der deutschen Dichtung, die zuletzt auf die unveränderte starke Wirkung
des germanischen Blutes zurückzuführen ist. Eben diese Originalität ver-
hindert dann aber auch wieder die Ausbildung eines nationalen Stils.
Wir haben nicht das deutsche Drama, wie es ein spanisches, englisches,
französisches gibt, wir haben nur ein Lessingsches, Schillersches, Grill-
parzersches, kaum, daß die Werke der Kleist, Hebbel, Ludwig verwandte
Züge tragen und uns für die Zukunft etwas relativ Einheitliches er-
hoffen lassen. Wir haben auch keinen nationalen Roman in dem Sinne,
wie ihn die Franzosen und Engländer haben, dafür aber eine weit
größere Anzahl von Charakterköpfen unter unseren Romanschreibern —
selbst bloße Unterhaltungsschriftsteller wie Spindler, Holtei, Hackländer
tragen noch eine ganz bestimmte Physiognomie. Wer da will, beklage
diesen Jndividualismus und führe ihn meinetwegen auch nach beliebter
oberflächlicher Weise auf den Mangel einer deutschen Hauptstadt zurück.
Jn Wirklichkeit beruht die Größe unserer Dichtung auf ihm, und er kann
uns auch garnicht gefährlich werden, wenn wir nur alle den echten
Stolz auf das in unseren Adern flietzende germanische Blut und die alte
deutsche Freiheit bewahren oder gewinnen.
Jm übrigen ist, wie schon angedeutet, die Entwicklung der deutschen
Literatur bei aller Selbständigkeit ihrer hervorragenderen Gestalten
natürlich doch gesetzmäßig ersolgt, man kann fie ohne Mühe in der all-
gemeinen und nationalen geschichtlichen Entwicklung entsprechende natür-
liche Perioden einteilen und deren Gesamtcharakter bestimmen, kann auch
im einzelnen die Zeiteinflüsfe, das, was nicht von innen heraus, sondern
(selbstoerständlich auch mit Notwendigkeit) von außen her kommt, fest-
ftellen und die einzelnen Erscheinungen endlich zu natürlichen Gruppen
ordnen. Man muß aber dabci beachten, daß unser Begriff Literatur,
indem er das dichterische, künstlerische Schaffen mit jedem anderen geistigen
zusammenwirft, kein sonderlich glücklicher ist; die poetische Triebkraft einer
Nation, die künstlerische im allgemeinen scheint ihren besonderen, bis jetzt
noch geheimnisvollen Gesetzen zu unterliegen. Vielleicht ist sie es, die,
wenn ein Volk einer Periode des Niedergangs zueilt, zuerst versiegt,
während geistige Thaten noch möglich bleiben. Aber wührend des
Niedergangs entwickeln sich ja auch in der Regel schon wieder die Ur-
sachen des neuen Emporsteigens: man kann überhaupt Entwicklungs-
perioden nicht bcstimmt abschließen und beginnen; immer ist ein Neben-
einander des Alten und Neuen da. So haben wir schon, während die
alte Volkspoesie abstirbt, eine Entwicklung der geistlichen Dichtung des
Mittelalters, so geht die bürgerliche Standespoesie durch das Medium
der Gelehrtendichtung in die neue Jndividualpoesie über. Es können
lange Zeiten hindurch die hervorragenden künstlerischen Erscheinungen
fehlen, aber gänzlich ohne Poesie ist darum doch keine Zeit. Gcrade
unsere deutsche Literatur bietet uns gute Gelegenheit, durch den Obcrstrom
des literarischen Lebens sozusagen noch einen (übrigens auch bej den
anderen Völkern vorhandenen) Unterstrom zu beobachten, der, von der
alten Volkspoesie ausgehend, im Grunde nic aussetzt, ja, manchmal
geradezu an die Stelle des Oberstroms der Kulturpoesie tritt. Oder,
Runstwart
35-^
dann doch die Erkenntnis eintritt, daß man das Ersehnte schon hat und
oftmals besser hat als die Fremden. Das ist die große Originalität
der deutschen Dichtung, die zuletzt auf die unveränderte starke Wirkung
des germanischen Blutes zurückzuführen ist. Eben diese Originalität ver-
hindert dann aber auch wieder die Ausbildung eines nationalen Stils.
Wir haben nicht das deutsche Drama, wie es ein spanisches, englisches,
französisches gibt, wir haben nur ein Lessingsches, Schillersches, Grill-
parzersches, kaum, daß die Werke der Kleist, Hebbel, Ludwig verwandte
Züge tragen und uns für die Zukunft etwas relativ Einheitliches er-
hoffen lassen. Wir haben auch keinen nationalen Roman in dem Sinne,
wie ihn die Franzosen und Engländer haben, dafür aber eine weit
größere Anzahl von Charakterköpfen unter unseren Romanschreibern —
selbst bloße Unterhaltungsschriftsteller wie Spindler, Holtei, Hackländer
tragen noch eine ganz bestimmte Physiognomie. Wer da will, beklage
diesen Jndividualismus und führe ihn meinetwegen auch nach beliebter
oberflächlicher Weise auf den Mangel einer deutschen Hauptstadt zurück.
Jn Wirklichkeit beruht die Größe unserer Dichtung auf ihm, und er kann
uns auch garnicht gefährlich werden, wenn wir nur alle den echten
Stolz auf das in unseren Adern flietzende germanische Blut und die alte
deutsche Freiheit bewahren oder gewinnen.
Jm übrigen ist, wie schon angedeutet, die Entwicklung der deutschen
Literatur bei aller Selbständigkeit ihrer hervorragenderen Gestalten
natürlich doch gesetzmäßig ersolgt, man kann fie ohne Mühe in der all-
gemeinen und nationalen geschichtlichen Entwicklung entsprechende natür-
liche Perioden einteilen und deren Gesamtcharakter bestimmen, kann auch
im einzelnen die Zeiteinflüsfe, das, was nicht von innen heraus, sondern
(selbstoerständlich auch mit Notwendigkeit) von außen her kommt, fest-
ftellen und die einzelnen Erscheinungen endlich zu natürlichen Gruppen
ordnen. Man muß aber dabci beachten, daß unser Begriff Literatur,
indem er das dichterische, künstlerische Schaffen mit jedem anderen geistigen
zusammenwirft, kein sonderlich glücklicher ist; die poetische Triebkraft einer
Nation, die künstlerische im allgemeinen scheint ihren besonderen, bis jetzt
noch geheimnisvollen Gesetzen zu unterliegen. Vielleicht ist sie es, die,
wenn ein Volk einer Periode des Niedergangs zueilt, zuerst versiegt,
während geistige Thaten noch möglich bleiben. Aber wührend des
Niedergangs entwickeln sich ja auch in der Regel schon wieder die Ur-
sachen des neuen Emporsteigens: man kann überhaupt Entwicklungs-
perioden nicht bcstimmt abschließen und beginnen; immer ist ein Neben-
einander des Alten und Neuen da. So haben wir schon, während die
alte Volkspoesie abstirbt, eine Entwicklung der geistlichen Dichtung des
Mittelalters, so geht die bürgerliche Standespoesie durch das Medium
der Gelehrtendichtung in die neue Jndividualpoesie über. Es können
lange Zeiten hindurch die hervorragenden künstlerischen Erscheinungen
fehlen, aber gänzlich ohne Poesie ist darum doch keine Zeit. Gcrade
unsere deutsche Literatur bietet uns gute Gelegenheit, durch den Obcrstrom
des literarischen Lebens sozusagen noch einen (übrigens auch bej den
anderen Völkern vorhandenen) Unterstrom zu beobachten, der, von der
alten Volkspoesie ausgehend, im Grunde nic aussetzt, ja, manchmal
geradezu an die Stelle des Oberstroms der Kulturpoesie tritt. Oder,
Runstwart
35-^