stufe nicht entspricht oder seiner Auffassungsgabe gänzlich versag't ist.
Der Mensch ist von Anfang an noch kein Jndividuum, er wird es erst
durch eine langwierige Entwicklung, während deren er unausgesetzt seine
Aufmerksarnkeit auf ihren gesamten Verlauf zu richten hat. Er wird
fich als nichts anderes betrachten als einen treuen Diener seiner Natur,
seiner Gaben, seines Wesens, das ihm allein eigen ist, und wird wissen,
daß dieses sein Wesen als eigenartig nur in die Erscheinung tritt, wenn
es von ihm selbst täglich und stündlich gehegt und gepflegt und mit
weiser Voraussicht fortgebildet wird. Jeder Mensch hat, ehe er zum
individuellen Abschluß seiner Persönlichkeit gelangt, ein leidenschaftliches
Bedürfnis sich gleichsam in der umgebenden Welt aufzulösen, sich selbst
und seine Unruhe darin zu vergessen, und diesem Trieb soll der junge
Künstler in vollem Umfang nachgeben. Kein Schulmeister darf ihn in
beschränkter Fürsorge davon abhalten. Das eben ist die Kunst der künst-
lerischen wie jeder Entwicklung, sich selbst zu gewinnen, inüem man sich
verliert. Und diese Kunst ist es, die gelehrt werden muß, sie zu über-
liefern ist die Aufgabe des Lehrers. Das erste Mittel, um diesen Zweck
zu erreichen, ist folgendes: Der junge Künstler muß durchaus gewöhnt
werden, täglich eine bestimmte Zahl von Stunden in reicher Abwechs-
lung zu arbeiten. Es muß ein energischer Kampf geführt werden gegen
die in Künstlerkreisen eingerissene Gewohnheit, nur dann zu arbeiten,
wann „der Genius dazu treibt". Mit dem Genius ist es eine eigene
Sache, er kommt über uns, wohl wie ein Blitz aus heiterem Himmel,
scheinbar unberufen, und gewiß ist es, daß er sich nicht mit Gewalt her-
beizwingen läht. Aber es ist nicht weniger gewiß, dah er dem seltener
und seltener erscheint und ihn schließlich ganz verläßt, der ihn als einen
geduldigen Hausknecht betrachtet, welcher die Verpflichtung hat, ihn jeden
Morgen zur rechten Zeit zu wecken. Wenn wir uns aber fragen, welches
Mittel es denn in aller Welt gibt, um das Geheimnisvollste, Rätselhaf-
teste, was dieses Erdenleben uns bietet, durch eigenes Bemühen hervor-
zulocken, welches Mittel imstande ist, uns aus der Abgeschmacktheit des
alltäglichen Lebens herauszureißen, ein neues Licht zu entfachen, das
uns die Welt in überraschend schönem Glanze zeigt, mit einem Wort:
unter dem Banne einer eigenen Jdee zu leben, die allein uns erst das
Gefühl verleiht, daß wir Jndividualität besitzen, daß unsere Welt eine
eigene Welt ist und daß sie trotzdem nicht für sich allein bestcht, sondern
wunderbar harmoniert mit dem All, in das wir uns staunend versetzt
sehen, ja, daß wir schließlich in den erhabensten Momenten unseres Da-
seins dahin gelangen, beide Welten als Eins, als die Welt, zu empfin-
den, und bestimmend auf deren Lebensgang cinwirken, — wenn wir
nach einem solchen Mittel fragen und forschen, wenn der Lehrer, der
eine junge Kraft vor sich hat, in tiefem Gefühl der Verantwortlichkeit
sucht nach dem erstcn Wort, das er zu scinem Zögling sprechen soll, so
ist es dies, was ich jetzt sagen werde. Hast du crkannt, daß dein Schttlcr
zur Kunst berufen ist, so laß es dein Hauptaugenmerk scin, daß er im
Glauben stark wird, nämlich im Glauben an die Kraft seines Genius.
Denn ohne diesen Glauben ist er ein Nichts, ein schillernder Schmctter-
ling, der bald in dieser, bald in jener glänzenden Farbe gleißt, abcr,
ehe der Herbst gekommen ist, erbleicht. Der Schüler muß wissen, daß
die letzten Fragen, die das Leben ihm vorwirft, von niemandem gelöst
IlurMwart
— 524
Der Mensch ist von Anfang an noch kein Jndividuum, er wird es erst
durch eine langwierige Entwicklung, während deren er unausgesetzt seine
Aufmerksarnkeit auf ihren gesamten Verlauf zu richten hat. Er wird
fich als nichts anderes betrachten als einen treuen Diener seiner Natur,
seiner Gaben, seines Wesens, das ihm allein eigen ist, und wird wissen,
daß dieses sein Wesen als eigenartig nur in die Erscheinung tritt, wenn
es von ihm selbst täglich und stündlich gehegt und gepflegt und mit
weiser Voraussicht fortgebildet wird. Jeder Mensch hat, ehe er zum
individuellen Abschluß seiner Persönlichkeit gelangt, ein leidenschaftliches
Bedürfnis sich gleichsam in der umgebenden Welt aufzulösen, sich selbst
und seine Unruhe darin zu vergessen, und diesem Trieb soll der junge
Künstler in vollem Umfang nachgeben. Kein Schulmeister darf ihn in
beschränkter Fürsorge davon abhalten. Das eben ist die Kunst der künst-
lerischen wie jeder Entwicklung, sich selbst zu gewinnen, inüem man sich
verliert. Und diese Kunst ist es, die gelehrt werden muß, sie zu über-
liefern ist die Aufgabe des Lehrers. Das erste Mittel, um diesen Zweck
zu erreichen, ist folgendes: Der junge Künstler muß durchaus gewöhnt
werden, täglich eine bestimmte Zahl von Stunden in reicher Abwechs-
lung zu arbeiten. Es muß ein energischer Kampf geführt werden gegen
die in Künstlerkreisen eingerissene Gewohnheit, nur dann zu arbeiten,
wann „der Genius dazu treibt". Mit dem Genius ist es eine eigene
Sache, er kommt über uns, wohl wie ein Blitz aus heiterem Himmel,
scheinbar unberufen, und gewiß ist es, daß er sich nicht mit Gewalt her-
beizwingen läht. Aber es ist nicht weniger gewiß, dah er dem seltener
und seltener erscheint und ihn schließlich ganz verläßt, der ihn als einen
geduldigen Hausknecht betrachtet, welcher die Verpflichtung hat, ihn jeden
Morgen zur rechten Zeit zu wecken. Wenn wir uns aber fragen, welches
Mittel es denn in aller Welt gibt, um das Geheimnisvollste, Rätselhaf-
teste, was dieses Erdenleben uns bietet, durch eigenes Bemühen hervor-
zulocken, welches Mittel imstande ist, uns aus der Abgeschmacktheit des
alltäglichen Lebens herauszureißen, ein neues Licht zu entfachen, das
uns die Welt in überraschend schönem Glanze zeigt, mit einem Wort:
unter dem Banne einer eigenen Jdee zu leben, die allein uns erst das
Gefühl verleiht, daß wir Jndividualität besitzen, daß unsere Welt eine
eigene Welt ist und daß sie trotzdem nicht für sich allein bestcht, sondern
wunderbar harmoniert mit dem All, in das wir uns staunend versetzt
sehen, ja, daß wir schließlich in den erhabensten Momenten unseres Da-
seins dahin gelangen, beide Welten als Eins, als die Welt, zu empfin-
den, und bestimmend auf deren Lebensgang cinwirken, — wenn wir
nach einem solchen Mittel fragen und forschen, wenn der Lehrer, der
eine junge Kraft vor sich hat, in tiefem Gefühl der Verantwortlichkeit
sucht nach dem erstcn Wort, das er zu scinem Zögling sprechen soll, so
ist es dies, was ich jetzt sagen werde. Hast du crkannt, daß dein Schttlcr
zur Kunst berufen ist, so laß es dein Hauptaugenmerk scin, daß er im
Glauben stark wird, nämlich im Glauben an die Kraft seines Genius.
Denn ohne diesen Glauben ist er ein Nichts, ein schillernder Schmctter-
ling, der bald in dieser, bald in jener glänzenden Farbe gleißt, abcr,
ehe der Herbst gekommen ist, erbleicht. Der Schüler muß wissen, daß
die letzten Fragen, die das Leben ihm vorwirft, von niemandem gelöst
IlurMwart
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