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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,1.1900-1901

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Heft 12 (2. Märzheft 1901)
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Kunowski, Lothar von: Der Genius, seine Auferstehung und Führerrolle im Leben
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https://doi.org/10.11588/diglit.7961#0555

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rverden können, als von der Stimme, die aus seinem Jnneren spricht.
daß den letzten entscheidenden Ausweis an jedem Scheideweg seines
Strebens ihm niemand auf der Welt gibt, als die Stimmc seines
Jnneren. Der ist nicht zum Lehrer berusen, der jene in der Brust
seines Zöglings unterdrückt, um ihn in eine seiner Natur fremdartige
Bahn zu lenken. Das Machtgebot des Genius soll der Lehrer respek-
tieren, es soll nicht nur für den Schüler, sondern auch für ihn als
Leiter bestimmend sein, ja alles, was er seinem Schüler Gutes thun
kann, besteht darin, ihn im Vertrauen auf seiuen Genius zu bestürken,
ihm den Weg in seinem Dienste zu weisen und ihn zu lehren, wie man
den Genius herbeiruft. Die Arbeit aber soll von dem Gesichtspunkt
ausgehen, daß die Kraft, die in unserem Jnneren wohnt, nicht für sich
allein bestehen kann, oaß sie vielmehr nichts anderes ist, als die Kraft,
die in allen Wesen, in allen Erscheinungen rings um uns wohnt und
zn ihnen und aus ihncn rcdet, wie der Genius zu uns nnd aus uns
rcdet. Der Schüler soll sich versenken in die Erscheinungen der Welt,
zunächst in die Werke seiner Vorgänger und dann in die der Natur,
er soll sein eigenes Wesen aufzugeben verstehen. Das ist es, was man
„naiv" arbeiten nennt. Naiv arbeiten heißt: die eigentümliche Kraft,
die in den Erscheinungen stcckt und iu ihnen eine besondere Ausprägung
durch die Form gefunden hat, zu erkennen. Die Fähigkeit der Erkenntnis
ist uns allein zu dcm Zwcck verliehen, daß wir die Formen der Er-
scheinungswelt zu zergliedern und zu zersprengen verstehen, um die Kraft,
die in ihnen geborgcn ist, zum Vorschein zu bringen und, was das
Wichtigste ist, mit der unseren zu verbinden, bis wir uns fähig machen
jenes Schöpfungsaktes, in welchem wir selbst eine Welt erzeugen mit
den Kräften, die wir der wirklichen Wclt entnahmen. Das ist die
Untwort auf die Frage nach dem Mittel, den Genius herauszurufen:
Verbinde deine Kraft mit derjenigen, die in den Wesen deiner Umgebung
wirkt- „Nachdem du täglich so gearbeitet hast", wird der Lehrer sagen,
„gleichgültig zunächst, wohin dich die Arbcit führt, ohne Unruhe, gleich-
gültig, ob du heute oder morgen schon klar siehst, wohin du dich zu
wenden hast, aber im Vertraucn auf die Auferstehungskraft deines
Genius, wird sich plötzlich, ehe du es dich versiehst, laut und vernehmlich
in deinem Jnneren die Stimme erheben, die dir den weiteren Weg
weist, denn dein Genius ist erwacht, weil du ihm neue Nahrung zn-
gcführt hast." Der Schüler soll wissen, daß die Natur sich nicht ver-
gewaltigen läßt, daß sie dem Trügcn den hcrbsten Widerstand leistet,
daß sie ebenso schweigsam scin kann wie die allein beseligende Stimmc
des Jnneren, wenn man sic vernachlässigt. Tu sollst mit der Natur
ringcn wie mit einem ungefügen Riesen und ihni die Braut, die er
bewacht, entreißen. Es ist nicht damit gethan, daß du hie und da der
Natur kokett die Wange streifst, hie und da eine genialc Skizze machst,
cinen interessantcn Zug von ihrcm Angesicht crjagst. Form, Farbe,
Licht sind sreilich ein reizvollcs Gewand, aber die Natur läßt sich nicht
entkleidcn, wie man eine Dirnc entkleidet. Arbeite täglich acht Stunden
wie ein Handwerker, zunächst glcichgültig was, wenn du keinen Lehrer
hast, der deine Entwicklung leitet. Form, Farbe, Licht siud überall zu
finden, ihr Wescn ist in dcr gesamtcn Natur dasselbe, magst du nnn
einen Baum odcr cin Tier, ein menschliches Angesicht oder die uner-

e. Märzheft tdvt

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