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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 3 (1. Novemberheft)
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Avenarius, Ferdinand: Die Neue Richtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0169

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stellers, der jedes Jahr seine Premisre im »Deutschen Theater« haben
will. Das hat mit innerlichen Erlebnissen wenig zu tun. Darum be-
wegt sich Gerhart Hauptmanns Schaffen unaufhaltsam in absteigender
Linie, und man muß annehmen, daß er in den »Webern« so ziemlich
Alles gesagt hat, was er zu sagen hatte.

Jm übrigen hat sich der Naturalismus der »neuen Richtung« als
vollständig unfruchtbar erwiesen. Weder hat Gerhart Hauptmann
selbst außer den »Webern«, noch haben seine Vorgünger oder Nachfolger
ein naturalistisches Werk von künstlerischer Bedeutung zustandegebracht.
Wie wenig die »neue Richtung« die Hoffnungen ersüllt hat, die ihre
Anfänge erregt hatten, zeigt sich am deutlichsten gerade bei dem Verlaus
ihrer naturalistischen Bestrebungen, — womit selbstverständlich nicht ge-
sagt sein soll, daß nicht auch diejenigen Schriftsteller der »neuen Rich-
tung« enttäuscht haben, die nicht zur streng naturalistischen Observanz
gehörten. Das Persönliche, das sie zu geben hatten, war rasch veraus-
gabt, und bei manchem zeigte es sich bald, daß überhaupt nichts Per-
sönliches vorhanden war.

Man hat sich in Deutschland, wie gesagt, den französischen
Naturalismus zum Muster genommen, — den Naturalismus Emile
Zolas und der Goncourts, der in der genauen Schilderung der
Einzelheiten das Mittel entdeckt zu haben glaubte, um im Kunstwerke
die volle Wahrheit des Lebens auszudrücken. Schon jetzt hat in Frank-
reich dieser Naturalismus keine Geltung mehr. Wer ist heute noch im-
stande, die langen Seiten zu lesen, in denen Zola die Wäsche oder den
Käse oder die Rayons eines Waarenhauses schildert? Und wührend
Zolas Bücher, mit wenigen Ausnahmen, noch bei Lebzeiten des Autors
veralten, haben die Romane und Novellen Maupassants sich all ihre
Frische, all ihre Kraft bewahrt und werden sie sich voraussichtlich sür
alle Zeiten bewahren. Maupassant hat seine Bücher nicht mit endlosen,
die Details anhäufenden Beschreibungen beschwert. Seine Schilderungen
sind kurz; und doch — wie lebt Alles, was er schildert! Auch er hat
nach Wahrheit gestrebt; und in wenigen Werken der heutigen Literatur
hat die Wahrheit einen so überzeugenden, einen so überwältigenden Aus-
druck gesunden, wie in den seinen. Aber er hat nicht die Einzelheiten
des Lebens abzuschreiben, sondern er hat das Wesentliche, das
Lebendige im Leben zu erfassen und wiederzugeben versucht. Es genügt,
in einer Dichtung nur das zu sagen, was den Eindruck der Wahrheit
hervorbringt. Und darauf allein kommt es an: aus den Eindruck oder,
wie Maupassant in der herrlichen Vorrede zu »kisrre et )ean« sich
ausdrückt, auf die »Jllusion« der Wahrheit, nicht auf die Wahrheit selbst.
Darum nützt alles noch so methodische Aussuchen und Verzeichnen der
äußeren Einzelheiten nichts. Der Prozeß, der über die Wahrheit des
Dargestellten entscheidet, spielt sich im Jnnern des Künstlers ab. Es
ist alles eine Frage der künstlerischen Persönlichkeit. Und Maupassant
ist darum einer der größten Wahrheitsdichter aller Zeiten gewesen, weil
ihm die »pEsance ^vocatrice« innewohnte, — weil er eine künstlerische
Persönlichkeit besaß, der die Gabe verliehen war, die Jllusion der Wahrheit
hervorzurusen.

Diese Gabe war in einem nur annähernd ähnlichen Maße keinem
deutschen Naturalisten zuteil geworden. Es fand sich unter ihnen kein

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