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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1902)
DOI Artikel:
Weber, Leopold: Sprechsaal: nochmals Maeterlincks "Monna Vanna"
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0401

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höheren Reinlichkeits-, Stolz-, Ehrbegriffe u. s, w. sind ja Vocstellungen, die
sich aus konkreten Bedingungen unsres irdischen Seins herausentwickelt haben;
stellen wir uns nun begrifflich jenseits dieser Bedingungen, fragen wir in ab-
strahierender Weise, was bedeuten diese Begriffe denn „eigentlich", so zerrinnt
ihr bindender Wert für uns natürlich sofort in nichts. Nur übersehen wir
meist, daß wir bei siner solchen Betrachtungsweise uns selber sozusagen auch
in Abstrakta verwandeln, über unser Erdendasein hinausstellen. Zu diesem
Standpunkt hat aber meines Erachtens ein tieferes Recht nur, wer ihn dann
auch aus üie Dauer behaupten kann, sonst ist eine solche Erhebung nicht viel
mehr als ein täuschendes Begriffsspiel. Auf unsern besonderen Fall angewandt:
ist Monna Vanna in solcher Weise tatsächlich über die Besleckung erhaben,
üie durch ihr Opfer dem, sagen wir, gewöhnlichen Sterblichen widerführe?
Mir scheint, so lange es sie vor der Hingabe an den einen Mann ekelt, an den
andern dagegen nicht, so lange spricht sich darin aus, datz sie auf unseren
menschlichen Begriff „Liebe" mit den darin liegenden, scheidenden Reinlichkeits-
gefühlen in der Tat reagiert. Vor einer Paarung, die man nicht in ihrer
tieferen, symbolischen, in ihrer seelischen Bedeutung, die man als einen rein
körperlichen Vorgang empfände, vor der wäre doch ein stärkrer Ekel, als etwa
in ein Kehrichtfatz zu greifen, nicht mehr angebracht. Spürt hier Monna Vanna
aber das stärkere Grauen, das ihre Tat erst zur Aufopferung stempelt, kann
sie sich also nicht, ohne ihrem eignen Gefühl ins Gesicht zu schlagen, über Stolz
und Ehre der Liebenden stellen, die in üiesem spröden Reinlichkeitsempfinden
mit Recht ihr höchstes ethisch-ästhetisches Moment achten, so lätzt sie auch ein
höheres Gefühl in sich in üen Kot treten, wenn sie sich preisgibt.

Wem üiese begrifflichen Auseinandersetzungen nicht einleuchten, der mache
die einfache Gegenprobe auf seinen „natürlichen" Jnstinkt. Wer würde Monna
Vannas Tat zu billigsn wagen, wenn sie sich preisgäbe, um ihr eignes
Leben zu retten? Aus welchen Gründen aber entziehn wir ihr in diesem Falle
üas Gefühl der Schätzung, als weil wir's instinktio spüren, datz ihr die Tat
doch eine Besudlung der Persönlichkeit bedeutet und zwar eine so starke Be-
sudlung, datz wir's sür selbstoerständlich halten, sie müsse, wenn's um ihr
eignes Leben geht, den Tod vorziehn?

Also, um die Frage, ob Monna Vanna durch ihr Verhalten höhere
ethische Werte in sich mitzhandeln lassen mutz, kann sich's wohl nicht mehr
handeln. Wenn hier noch eins Frage vorhanden ist, so kann sie nur lauten:
wird diese Besudlung nicht üadurch in ihr Gegenteil verwandelt, datz sie Monna
aus „Mitleid" an sich geschehn lätzt? wirkt diese ihre Aufopferung nicht üoch
grotz, da sie sie übsr sich gewinnt, nicht um sich, sondern um ihre Nächsten
aus Leibesnöten zu retten?

Da meine ich, wer in Wahrheit „grotz" empfindet, wer's volllebendig
sühlt, datz man Stolz und Ehre der Persönlichkeit nicht um ües bloßen Da-
seins willen in den Kot treten lassen darf, der wird diesen höheren Stolz der
Menschhsit in sich ebensowenig niedertreten lassen, wie in andern, der wird ihn
um seiner eignen physischen Nöte willen ebensowenig wie um der Leibesnöte
seinsr Mitmenschen willen beugen lassen, und zwar aus einem höheren
Altruismus, der es nicht zugeben will, datz das Niedrigere auf Kosten des Wert-
volleren sich rette. Es ist auch härter und schwerer, diesen höherenStolz zu wahren,
als den allgemein geltenden Ansichten von den Verpflichtungen des „Mitleids"
nachzugeben.

Wenn das „spitzsindige" Anfichten sind, so hab ich für mein Teil nichts

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