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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1902)
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Kretzschmar, Hermann: Vom Nutzen der Musik und von ihren Gefahren
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0458

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greiflich lst das üei den Vertretern der jungen deutschen Literatur-
geschichre. Die Frage nach der Krast, die die elende deutsche Poesie
zwischen dem Dreißigjährigen nnd dem Siebenjährigen Kriege am Leben
erhalteu und den spütern Aufschwung ermöglicht hat, müßte auf die
Mnsik, aus H. Albert, W. Franck, Ad. Krieger, aus Sperontes und Ge-
nossen führen! Aber kein Wort wird davon gesagt, kein Wort darüber,
daß Heinrich Schütz sür seine Zeit mehr bedeutet als Martin Opitz,
Reinhard Keiser mehr als der gesamte Hamburger Dichterkreis.

Gewiß haben sich auch in der ültern Zeit hervorragende Gelehrte
nicht bloß der Musik entzogen, sondern sie auch offen bekümpft. Aber
berechtigterweise. Dem Leipziger Prosessor Ernesti, der unter die bc-
kanntesten Beispiele dieser Klasse gehört, liesen die Schüler und die
Studenten aus den Stunden und aus den Kollegs sort in die Konzerte
und in. die Oper. Sein Kollege Gottsched wetterte gegen die Sing-
spiele, weil sie das deutsche Drama erdrückten. Es handelte sich um
Abwehr des Übermaßes, und es handelte sich um Ausnahmen. Die
Musiksreundlichkeit der deutschen Gelehrtenwelt im allgemeinen wird
von der Resormationszeit ab schon genügend durch die Unzahl latei-
nischer und dentscher Lobgedichte belegt, die bis ins achtzehnte Jahr-
hundert in den gedruckten Kompositionen den Noten vorausgehn.

Die neuerliche Verminderung der Musikliebe in den Kreiseu edelster
Bildung ist ebenso unleugbar, wie erklürlich. Sie hat gleichen Schritt
gehalten mit der Vermehrung musikalischen Banausentums. Ohne
Zweifel lüuft unter der großen Menge von Bertretern und angeblichen
Freunden der Musik heute ein sehr starker Troß von Marodeurs und
von Leuten mit, die den Wert der Tontunst sür ernste Augen in Frage
stellen müssen. Zahlreicher als unter den übrigen Künstlern sind unter
den Berufsmusikern die überspannten und versimpelten, die geistig
toten oder ganz matten Naturen, nnter den Musikfreunden die Be-
wundrer schaler Äußerlichkeit. Politik, Wissenschast, Poesie existieren
sür diese Musikknechte nicht. Jhre Umgebung ist von einer Gefahr sürs
Vaterland bewegt, ist entzückt über eine wissenschaftliche Entdeckung.
Sie wersen die Frage dazwischen: „Haben Sie gestern Herrn Wüllner
gehört?" Jn Varzin ist es vorgekommen, daß ein Leipziger dem Fürsten
Bismarck sofort nach der Vorstellung bemerkte: „Durchlaucht kennen
doch unser Gewandhaus?" Häusig bestehn diese Musitschwärmer auch
noch sehr schlecht, wenn ihnen musikalisch auf den Zahn gesühlt wird.
Es gibt da Konzertjubilare, die trotz sünfundzwanzig Aufführungen
tein einziges Thema der Neunten Sinsonie anzugeben wissen. Diese
Scheinliebe zur Musik ist ja alt, von Kuhnau bis aus Liszt haben sich
schriststellernde Musiker immer wieder darüber belustigt. Aber sie wirkt
heute besonders abstoßend, weil unsre Zeit aus allen Gebieten aus-
drücklich nach Klarheit, Wahrheit und Solidität trachtet. Auch von
der Musik muß sie echte Früchte, einen höhern Nutzen verlangen und
leere Schalen verwerfen. Wird der Betrieb der Musik strenger aus
diese Forderung gerichtet, so kann sich die Menge ihrer Anhänger zeit-
weilig lichten, aber sicher wächst dann deren Durchschnittsqualität, und
die Musikflucht in den Kreisen der höhern Bildung hört auf.

Dahin kommen wir aber nur dann, wenn über das Wesen der
Musik allgemein richtigere Grundansichten herrschen, als das zur Zeit

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