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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI issue:
Heft 13 (1. Aprilheft 1903)
DOI article:
Obrist, Hermann: Neue Möglichkeiten in der bildenden Kunst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0036

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in Europa machen. Warum wollen wir dcutschen Kunsthandwcrker uns
wieder cinmal übcrholcn lassen?

Die nene Möglichkeit wäre also auch hier eine Sache der Me-
thode, des Jntellekts, der Erkenntnis und nicht bloß eine künst-
lerische Frage.

Die so gefundenen Typen würden nun das Substrat bilden für
die individuelle Bariierung nach der Seite dcs künstlcrischen Ge-
schmackes hin und diese Geschmacksfrage ist wieder cine jcner Sachen,
die so kompliziert und unlösbar erscheinen und doch viel einfacher
zu lösen sind, als gewöhnlich angenommen wird.

Die neue Möglichkeit in Dingen des Geschmackes scheint mir
nun eine für Deutschland allerdings ganz neue zu sein, die Möglich-
keit nämlich eines nationalen gutcn Geschmackes.

Wie, ein guter Geschmack, der über das ganze Deutsche Reich
verbreitet wäre? Unglaublich, unmöglich! Und dennoch kann auch
diese neue Möglichkeit planmäßig, also auf deutsche Weise erreicht
werden. —

Es werdcn jetzt in Deutschland von hundert Gegenstünden zehn
in gutem Geschmacke hcrgestellt und neunzig in dem, was wir mit
dem echten deutschen Worte „ordinärem Geschmackc" bezeichnen. Das
Ordinäre ist dcr eigentliche Giftbazill, der uns schon scit dreißig
Jahren nicht aufkommen läßt. Was ist das nun cigentlich, das
Ordinäre? Wir wissen es alle: Es ist in erster Linie das strcberifthc
„Nach-etwas-aussehen-wollen" was es nicht ist, in zweiter Linie das
Häufen von Pracht und Zierrat, Gold, Farbe ohne jedcn Sinn und
Verstand, nur um das Volk zu reizen und zu verführen. Wir sind
uns alle klar darüber. Warum geht dcnn die Sache weiter? Läßt
sich denn hier wirklich nichts machen? Freilich, auch hier ist es zu
spät, wenn der Zeichner, der Modelleur, der Dekorateur hinaus-
getreten sind in dic Hetze des Lebens: Vorher soll er sorgfältig
trainiert worden sein im Unterscheiden von Anständigcm nnd Or-
dinärem. Damit ist es nicht getan, daß er auf der Kunstgcwerbc-
schulc die Erzcugnisse der historischen Stile sauber hat mehrere Jahre
hindurch kopieren dürfcn. Es gibt auch unter d.em Vielcn, was cr
da nachzeichnet, genug Minderwertiges und sogar Ordinärcs. Er
verläßt die Schule init vielem Reißbrettkönnen und ratlos in Dingen
der Zweckmäßigkeit, des Geschmackes für das Lcben des Jahres 1901.
Eine einzige Stunde ciner solchen neuen Unterrichtsart, die wir
„Geschinacksunterricht" nennen möchten, könnte mehr wirkcn, als ein
Monat des Nachzeichnens. Man stelle auf ciuen Tisch zehn Stück
unserer entsetzlichen dcutschen protzigcn Majoliken, und daneben drei
Stück des edlen Steingutes von Delaherche, lasse die Schüler den
Unterschicd zucrst selber vergleichend empfinden, und begründe dann,
warum das eine ordinär, das andere vornchm ist. Man wieder-
hole diese Massage dreißigmal in einem Semester und man wird
wenigstens einige Seelen gerettet haben. Sollte es außerdem noch
zu erreichen sein, daß auch dic jungen Fabrikanten, ehe sie die
Lcitung der Geschäfte übernehmcn und atemlos produzieren, solche
Geschmackskurse mitmachten, dann wäre allerdings der Gipfel der
Wünsche erreicht. Es ist nicht wahr, daß gutcr Geschmack sich nicht

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