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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 14 (2. Aprilheft1903)
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Schäfer, Otto: Die ersten Elemente musikalischer Schönheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0086

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Wer sich von der Abstumpfung der Sinne und der Abnutzung der
Empfänglichkeit klar überzeugen will, der vergleiche nur die Wirkung
des ersten Theaterbesuchs mit der späterer Besuche. Als die Hellenen
mit der einstimmigen Musik nicht mehr zufrieden waren, fügten sie
eine zweite Stimme hinzu und zwar, was sehr charakteristisch ist,
zuerst die Oktave, also den Ton, welcher die Schwingungen des Grund-
tons am wenigsten stört. Es ist üblich, wenn von der Kunst dcr
Hellenen die Rede ist, Architektur und Plastik zu loben, ihre Musik
aber als minderwertig hinzustellen; mit Unrecht — der cinfachere
naivere Standpunkt ist durchaus nicht immer der schlechtere. Dann
läßt sich lange Jahrhunderte hindurch eine Entwicklung der Musik
nicht verfolgen. Der in Flandern lebende Benediktinermönch Hucbald
sgest. 930) soll zuerst zu der Choralmelodie eine zweite Stimme und
zwar in dcr Quinte, dann Quarte, hinzugefügt haben. Uns erscheinen
Quinten- und Quartenparallelen sehr häßlich, den musikalischen Leuten
jener Zeit müssen sie doch wohl Genuß bereitet haben. So ging die
Entwicklung weiter; als der Zwciklang nicht mehr wirkte, nahm man
den Dreiklang, um so die Wirkung dcr Abstumpfung aufzuheben.
Jetzt lassen wir schon Disharmonieenfolgen gelten, die noch vor hun-
dert Jahren unmöglich gewesen wären.

„Die einzelnen, mehr vder weniger komplizierten Harmonieen
sind die Farben, mit dencn das Bild gemalt werden soll; die Zeich-
nung ist der Rhythmus." Leider kann uns dieser häufig gebrauchte
Vergleich eine wirkliche Erklärung der rhythmischen Wirkungcn nicht
geben: schon deshalb nicht, weil die Zeichnung ohne Farben als Kunst-
werk bestehen kann, der Rhythmus aber nicht. Andere Erklärungen
gründen sich darauf, daß der Rhythmus, „die eingeteilte Zeit", an
die Unendlichkeit dcr Zeit mahne, und darum über das Triviale crhebe;
jedoch findet sich gerade so oft die entgegengesetzte Behauptung, der
Rhythmus befreie uns von dem drückenden Gefühl des Unendlichen
und versetze uns in die festlich-frohe Gegenwart. Hören wir uns
einen Rhythmus einmal genauer an. Eine Reihe gleich starker, in
gleichen Jntervallen folgender Gehörseindrücke, vielleicht die Schläge
einer Uhr, dürfte wohl der einfachste sein. Sind wir während der
Aufnahme ciner solchen Reihe von Eindrücken wirklich nur Wahr-
nehmungsmaschinen? Nein! Sondern die Neihe wird von Gefühlen
Lestimmter Art begleitet. Jn der Zeitspanne zwischen zwei Eindrücken
haben wir deutlich ein immer stärker werdendes Gefühl der Erwar-
tung, dann, mit dem Eintritt des Eindruckes, ein Gefühl dcr Er-
süllung, oder, wie die Psychologen sagen: die Reihe der Eindrücke
ist von Spannungs- und Lösungsgefühlen beglcitet. Am besten läßt
sich diese Erscheinung an den langsamen Schlägen einer Tnrmuhr in
den Abendstunden beobachten, wcil dann anderc störcnde Geräusche
fehlen und die Zahl der Schläge groß genug ist. Will man die
Stunde wissen und zählt deshalb mit, so wächst zwar die Spannung,
aber das Lösungsgefühl bei jedem einzelnen Schlage tritt nur schwach
ein, weil ja eine Entscheidung erwartct wird, dic sich erst mit dcm
ketzten Schlage ergibt. Um die Spannungs- und Lösungsgcfühle un-
gestört zu habcn, tut man also gut, vorher nach der Uhr zu sehen
und dann nicht zu zählcn. Bei schwachen Tönen wird die Erschcinung

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