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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 14 (2. Aprilheft1903)
DOI Artikel:
Obrist, Hermann: Neue Möglichkeiten in der bildenden Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0095

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die noch sichtbar? Dreimal in diesem Sommer sahen wir die Ber--
führung des heiligen Antonius von Padua dargestellt. Noch immer
war es die übliche Frauenzimmer-Tingeltangel-Verführerei, die seit
300 Jahren sich durch die Kunst schleppt. Hat denn keincr was Neues
zu sagen? Jst nicht jeder von uns Künstlern im Jnnersten ein An-
tonius, der immer und immer wieder sich der Verführung erwehren
muß, die ihn von der Auslebung seines besseren Jchs wegzuziehen
sucht? Kann denn nicht einmal die furchtbare Gefahr des modernen
Künstlers, die Qual der Streberei, ergreifend dargestellt werden, die
Träume von weltlichen und gesellschaftlichen Erfolgen gezeigt werden,
die den betenden Künstler im Jahre 1901 umgaukeln? Wäre das
nicht eine Erlösung für ihn, eine ergreifende Warnung für den Nach-
wuchs? Und das dargestellt mit allen Mitteln der Malerei, Farbe,
Belenchtung, der Zeichnung, der Komposition, mit einem Worte ein
Werk der bildenden Kunst und doch trotz des „unsittlichen Sujets"
ein großes sittliches Werk, ein Meisterwerk, gleichzustellen den ge-
waltigen Fresken eines Signorelli, statt der bombastischen Mauer-
dekorationen, die wir so oft erdulden müssen.

Wie aber könnte cin solches Werk überzeugend dargestellt werden
ohne ein enormes Können, ein Können, das viele Jahre intensivsten
Fleißes und rasender Hingabe an die Mannigfaltigkeit der Natur-
formen und der inneren Vision voraussetzt?

Und nun vollcnds, wenn es sich um das Herrlichste handelt,
was ein bildender Künstler uns geben könnte, das Sichtbarmachen
einer Vision von himmlischeren Dingen als die des Alltags! Wie
völlig läßr uns in solchem Falle die moderne Kunst im Stiche? Warum
werden solchc Werke nicht geschaffen? Weil die Künstler es nicht
können. Und sie rönnen es nicht, weil ihnen die Leidenschaft, die
gestaltende Kraft, das Wollen fehlt, mit einem Worte ethischc Kräfte,
starke Triebe, volle wahre innere Erlebnisse statt Kaffeehausabenteuer
oder bloßcr literarischer Grübeleien.

Die neuen Möglichkeiten also auch in der freischaffenden Malerei
hängen zum großen Teile nicht vom Talente ab, das in unserem
Volke vorhanden sein mag, denn das ist massenhaft vorhanden, son-
dern, wie überall, vom Sittlichen, Geistigen und von Triebkräften,
die noch nicht energisch genug zum Durchbruch gekommen sind. Doch
diese Kräfte sind da in der Nation. Sie sind schon einmal gcwaltig
hervorgetreten in unserer deutschen Musik und werden auch in der
bildenden Kunst dereinst hervorbrechen. Die soziale, politische und
wirtschaftliche Tätigkeit, die unerhörte Jntensität des Aufblühens un-
serer Wissenschaft und Technik hat in den letzten dreißig Jahren die
Hauptadern unserer sittlichen, intellektuellen, schöpferischen Kräfte ab-
gelenkt. Das ist der wahre tiefe Grund für die Erscheinung der
Bleichsucht in den bildenden Künsten. Es sind für sie nur die sensiblen,
nicht die starken Naturen übrig geblieben.

Doch die schlimmsten Jahre sind vorüber. Die Musik hat einen
Höhepunkt erlangt, der hart an Hypertrophie grenzt, die Technik, die
Anwendung der Wissenschaft und diese selber, haben ihre stärkste
schöpferischc Zeit hintcr sich, und das große Gesetz der Fruchtfolge
auf dem Acker des Geistes zeigt die Zukunft in hellem Lichte vor uns.

rq

Knnstwart
 
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