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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 15 (1. Maiheft 1903)
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Schultze-Naumburg, Paul: Hermann Muthesius über englische Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0161

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ihre Geleise verlassen und neue Ausdrncksformen von heute auf morgen
erfinden könne. Das ganze Programm für den »neuen Stil«, welches
bei solchen Gelegenheiten vorgebracht zu werden Pflegt: Entwicklung
des architektonischen Gebildes rein aus dem Zweck und ans dem Ma-
terial, Beiseiteschieben der historischen Formen und Anwendung selb-
ständiger neuer Formen an ihrer Stelle, Ausbildung eines Eisen-
stils u. s. w., sie sind in den Jahrgängen der damaligen englischen
Zeitschriften in allen Abhandlungen zu finden. Sie haben zu nichts
geführt, wenigstens zu nichts im Sinne der damaligen Schreiber. Und
doch ging damals eine Umwandlung vor sich, die bedeutend genug
war, eine Umwandlung, die die englische Architektur — wenigstens
in einer bestimmten Richtung — zu einer glanzvollen Entwicklung
geführt hat. Die künstlerische Tat, die damals von den Führern der
Bewegung geleistet wurde, war in allererster Linie die Beseitigung
eines stilistischen Zwanges, der wie ein Albdruck von ihnen empfunden
wurde, des Zwanges des Formalismus der Gotik.

Ein merkwürdiges Schicksal hatte es mit sich gebracht, daß diese
Führer jetzt dieselben Gründe gegen die Gotik ins Feld führen konnten,
die Pugin damals mit so viel Eifer gegen die herrschende klassi-
zistische Bauweise vorgebracht hatte. Man wollte einmal wieder Wahr-
heit, Vernunft und sachgemäße Bauweise, Anknüpfung an vaterlän-
dische Ueberlieferung. Alle diese Schlagwörter hatten auch auf dem
Programme Pugins gestanden. Er glaubte ihren Sinn vollauf in
seiner Gotik zu betätigen. Zweifellos war auch seine Architektur
wahrer und sachgemäßer als diejenige, die die Klassizisten an ihren
Palastfassaden anwandten, auch vaterländischer, denn er knüpfte un-
mittelbar an die drei Jahrhunderte früher abgebrochene englische Ueber-
lieferung der perpendikulären Gotik an. Aber das Vaterländische wurde
schon, wie weiter vorn erwähnt, im Lauf der nächsten Jahrzehnte
zu Gunsten der französischen Gotik vollständig verlassen. Und mit
den Grundsätzen der vernunftgemäßen Bauweise scheiterten, wie hervor-
gehoben, die Gotiker vor allem am modernen Profanbau. Jm Kirchcnbau
wirkten sie anscheinend deshalb mit so großem Erfolg, weil sie mit
Unterdrückung aller neuzeitlicher Raumumgestaltungen lediglich formal
arbeiteten. Jm Profan- und besonders im Hausbau dagegen, wo es
galt, ausgesprochen moderne, von den mittelalterlichen verschiedene Be-
dürfnisse zu decken, reichte der gotische Apparat nicht aus, wenigstens
nicht der Apparat der im gotischen Formalismus aufgehenden Archi-
tekten. Man trieb, ohne sich dessen bewußt zu sein, bald Bekleidungs-
kunst, man fand sich mit den praktischen Bedürfnissen ab so gut es
ging zu Gunsten einer rcin formalen Betätigung, auf die man ein-
geschworen war. Denn auch hier rächte sich bald das Herübernehmen
eines der Gegenwart fremden Stils, man sah die Sache von außen
an, nahm das Kleid für den Jnhalt und blieb ewig in der Form
befangen, die man für das Maßgebliche hielt, — der Fluch aller ab-
geleiteten Stile. >

Das Wesentliche, was damals geschah, war eine bewußte Nück-
kehr zu den englisch-bürgerlichen Formen des vorigen und vorvorigen
Jahrhunderts, eine grundsätzliche Abstreifung des hohen Schwunges
von den architektonischen Aufgaben des Alltagslebens. Man strebte.

t2S

Runstwart
 
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