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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 15 (1. Maiheft 1903)
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Schultze-Naumburg, Paul: Hermann Muthesius über englische Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0162

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sie mit den einfachsten gerade gegebenen Mitteln zu lösen, man wandte
die örtlichen Materialien und die heimischen Werkweisen des beson-
deren Standortcs an, bevorzugte ein Hervorkehren dcr Farbe, be-
sonders der natürlichen Materialfarbe, einen einfachen Zuschnitt der
Gebäudemassen auf Gruudlage der natürlichen Bedingungen, ein Wie-
deraufnehmen häuslicher Motive. Man könnte der Ansicht sein, daß
alle diese Bcdingungen die Gotik recht gut ebenfalls hätte erfüllen
können. Tatsächlich ist sie in England, dem Lande, in dem sie eine
weit dauerndere und strengere Herrschaft ausgellbt hat, als irgendwo
anders, hierzu nicht imstande gewesen. Alle Klagen der Einspruch-
erheber konnten direkt gegen das gerichtet werden, was damals unter
der Flagge der Gotik in der Profanbaukunst in die Welt gesetzt wurde,
gegen all die falschen Giebel und Fialen, das Maßwerk, hinter dem
das englische Schiebefenster auf- und abging, den Aufwand an
Nischen und Spitzbögen, den Gebrauch von Sandstein und schwerem
Holzgetäfel an Aufgaben, deren wirtschaftliche Vorbedingungen einem
solchen Aufwande entgegen warcn. Anderseits richteten sie sich frei-
lich in ebendemselben Maße gegeu den Unfug, der in jener Zeit unter
dem Namcn »italienische Villa« in der kleinbürgerlichen Baukunst Eng-
lands verübt wurde, gegen jene geputzten und mit Oelfarbe gestrichenen,
dachloseu Häuserkästen mit den ins Erbärmlichste verkleinerten italie-
nischen Palastfassaden, in deren innerer Ausstattung der damalige
Stubenmaler durch täuschende Nachahmung von echtem Marmor und
Holzgetäfel seine glänzendsten Triumphe feierte. Es handelte sich nicht
um die von der italienischen Architektenschule Jnigo Jones' gebauten
italienisierten Landsitze, sondern um das kleinbürgerliche Bereich, in
das der italienisch gebildete Architekt nicht gcdrungen war. Dort hatte
der Maurermeister gewirkt, der sich freilich von den heutigen dadurch
unterschied, daß er, wie jeder alte Handwerksmeister, die gerade in
Mode befindlichen Profile, Ornamente und architektonischen Ausdrucks-
mittel tadellos zu zeichnen verstand. Dort hatte man an den her-
kömmlichen Materialicu und Verzierungsweiscn festgehalten und von
der neuen italienischen Mode nur Nebensächlichkeiten, wie Profilie-
rungen u. s. w. übernommen. Jn Bezug auf Einfachheit der Mittel
und strenge Werklichkcit empfand man noch gotisch. Jm übrigen war
das ganze Gebiet der damaligen bürgerlichen Baukunst formal mächtig
beeinflußt von holländischen Werkweisen, die durch die in großer An-
zahl einwandernden holländischen Bauhandwerker nach England ge-
bracht worden waren.

New Zealand Chambers * kann als das Glaubensbekenntnis
des damals in der Blüte seiner Wirksamkeit stehenden Norman Shaw
aufgefaßt werden. Der Bau war ausgeprägt moderu, die Baumasse
ganz neu und selbständig gestaltet und in dieser Beziehung durchaus
ohne Vorgänger. Und doch waren die Einzelformen alle Bcstandteile
einer historisch überlieserten Sprache, der Versuch, »neue Formen« zu
schaffen, der gerade damals in der Presse eifrig befürwortet wurde,
lag dem Künstler fern. Norman Shaw hat stets daran festgehalten,
daß wir nicht durch derartige Experimente, sondern nur, wenn wir

* Der erste Bau Norman Shaws, der Aufsehen erregte.

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