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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1903)
DOI Artikel:
Erdmann, Karl Otto: Die Illusion in der Kunst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0204

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Sohnes gar rührend beklagten, immer wieder zurief: „aber er lebt
ja!, er lebt ja!"

Eine solche absolute Jllusion bei künstlerischen Werken wird
sehr verschiedenartig beurteilt: bald wird sie als Triumph realistischer
Kunst gepriesen, bald als naives Mißverständnis belächelt, bald als
widerästhetisches Verhalten gebrandmarkt. Eifern Aesthetiker schlecht-
hin gegen die Jllusion in der Kunst, so kann man mit Sicherheit
annehmen, daß sie diese Art der absoluten Jllusion im Auge
haben.* Jm Grunde lohnt sich's aber nicht, auf diese Fälle ein-
zugehn. Sie bilden verschwindende Ausnahmen, die mit dem nor-
malen Kunstgenuß nichts zu schaffen haben. Denn bei diesem werden
natürlich Kunst und Natur nicht ernstlich verwechselt. Die eigent-
liche künstlerische Jllusion ist von besonderer Art: sie ist nicht ab-
solut und vollkommen, sondern „u n v o l l st ä n d i g", ich finde vor-
läufig keinen besseren Ausdruck.

Eine solche unvollständige Jllusion ist ein gar seltsamer, bei-
nahe rätselhafter seelischer Zustand. Sie bleibt bestehen, obgleich sie
durchschaut wird. Man könnte sagen, daß unser Bewußtsein sich
spaltet, daß eine Art Doppelbewußtsein auftritt. Ein Sinnesein-
druck befehdet den andern, und die Anschauung straft das abstrakte
Wissen Lügen.

Eine Analogie bietet die bekannte Erscheinung, daß Personen,
denen ein Glied amputiert worden ist, in diesem Gliede Schmerzen
zu empfinden glauben. Das Gefühl sagt ihnen klar, daß sie das
fragliche Glied noch besitzen; aber das Auge und die Erinnerung an
den erlittenen Unfall belehren sie, daß sie keins mehr haben. —
Aehnlich steht es auch mit den Spielen der Kinder. Es ift freilich
nicht leicht zu sagen, was in der Seele eines Kindes vorgeht, wenn

* Jn dem Augenblick, da ich diese Zeilen dem Druck übergebe, kommt
mir das eben erschienene, von Kurella herausgegebene Buch Prof. Karl Langes
„Sinnesgenüsse und Kunstgenutz" in die Hände. Dort wird die Jllusion mit
folgenden Worten abgetan: „Zu den wirksamsten Kunstmitteln (?) rechnet man
vielfach die Jllusion, den Vorgang, durch den man einem Kunstwerk gegen-
über dazu kommt, es sür das Wirkliche zu halten, von dem es nur eine Dar-
stellung gibt. Mit dem Erreichen der Jllusion soll die Kunst, oder doch manchcr
Zweig der Kunst ihren absoluten Höhepunkt erreichen. — Diese Auffassung ist
merkwürdig naio. Jm Theater kommt so etwas bei einem wenig reflektie-
renden Publikum ja vor; aber offenbar hört der Kunstgenutz in dem Augen-
blick auf, wo der Betrachtende der Wirklichkeit gegenüberzustehen glaubt, dcnn
die Wirklichkeit kann ja keinen Kunstgenutz gewähren. — Wenn die alte Anek-
dote wahr ist" (hier folgt die oben crwähnte Geschichte von Rembrandts Bild-
nis), „so hatten die Nachbarn so lange keinen Kunstgenuß an dem Bilde, wie
die Tüuschung dauerte. Die Jllusion kann deshalb bis zu einem gewissen
Grade Zeugnis ablegen von der Vollkommenheit, womit ein nachbildendes
Kunstwerk ausgeführt ist, aber sie ist ganz unvereinbar mit unmittelbarem
Kunstgenutz^

Beiläufig bemerkt: die Nachbarn Rembrandts würden im fraglichen Mo-
mente wohl auch keinen Kunstgenutz gehabt haben, wenn sie das am Fenster
lehnende Bild als Bild aufgefatzt hätten. Umgekehrt aber: würden sie ein-
mal — die nötige Begabung vorausgesetzt — in einem geeigneten Momente
den Charakterkops des lebenden Rembrandt mit den Augen eines Künstlers
angesehn haben, dann würden sie zwar keinen Kunstgenuh aber doch einen
ästhetischen gehabt haben, der dem ersteren sehr ähnlich gewesen wäre.
Kunstgenuß und ästhetischer Naturgenuß sind keine Gegensätze.

isq

Kunstwart
 
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