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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1903)
DOI Artikel:
Erdmann, Karl Otto: Die Illusion in der Kunst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0205

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es spielt. Glaubt es an das, was es sagt und treibt? Täuscht es
sich selbst und die andern? Jst seine Jllusion absolut? Der be-
kannte Psycholog Sully berichtet einmal von einem Knaben, der
inniges Mitleid mit den Kieselsteinen verspürte, die er am Wegrande
sah, weil sie, wie er sagte, immer so regungslos an derselben Stelle
liegen müßten. Und so habe er sie oft stundenlang von einer Seite
der Straße auf die andere getragen, um wenigstens einige Abwechs-
lung in ihr eintöniges Dasein zu bringen. — Jn diesem Falle halte
ich es für sehr wohl möglich, daß der Glaube des Knaben an die
Empfindungsfähigkeit der Steine ganz ernsthaft und von keinerlet
Zweifeln beeinträchtigt war. Aber in der Regel ist es beim Spiel
doch anders. Mag ein Kind noch so sehr in seiner Rolle aufgehn,
ganz vergißt es doch kaum, daß der Stock, auf dem es reitet, lcin
lebendiges Pferd ist; daß es selbst kein Räuber, und sein Freund
kein wirklicher Soldat ist; es weiß doch im Grunde, daß die Puppe,
der es Bilderbücher zeigt und der es Schlummerlieder singt, nicht
wirklich sieht und hört. Aber trotzdem erfüllt die gegenteilige An-
nahme fast ganz scine Seele, und der Glaube an die Wirklichkeit
des Scheins löst die stärksten Gefühle in ihm aus. Ein kleines
Mädchen meiner Bekanntschaft Pflegte seiner Puppe täglich Abend-
brot vorzusetzen und wurde in dieser Gepflogenheit nicht im Ge-
ringsten durch die Erfahrung gestört, daß es jeden Morgen die un-
berührten Speisen forträumen mußte. Und als es einmal seine ver-
meintliche Pflicht versäumt, wachte es in der Nacht auf, und war
so ernstlicb betrübt, daß die Puppe habe hungern müssen, daß es
nicht einschlafcn konnte. So viel stärker war die Kraft der Jllusion,
als das glcichzeitige Wissen von der Leblosigkeit und Bedürfnislosig-
keit der Puppe.

Von genau dieser Art nun ist — grundsätzlich und psychologisch
betrachtet — der Zustand beim Eindruck eines Kunstwerks, wenn wir
in Jllusion geraten. Wer im Theater Schillers „Kabale und Liebe"
hört, der weiß im Grunde genommen wohl, daß der Raum vor ihm
auf der Bühne nicht das Heim eines Musikus Miller ist, sondern
durch bemalte Leinwand und Holz gebildet wird; es bleibt ihm be-
wußt, daß er nicht ein tief unglückliches Mädchen vor sich hat, son-
dern eine mit ihrem Lose vielleicht sehr zufriedene Schauspielerin;
daß ihre geröteten Augen mit Schminke hergerichtet sind, daß sie
uicht Gift zu sich nimmt, sondern ein harmloses Pulver; daß alle
diese trostlosen Mienen, Worte und Geberden nur Schein sind, und
daß das Liebespaar am Ende nicht gestorben ist, sondern nach Fallen
des Vorhangs vom Erfolg befriedigt sich wieder erheben wird, er
weiß das recht wohl und es schwindet auch während der besten Auf-
führung niemals aus feinem Bewußtsein, — und doch muß er an
die Wahrheit der erdichteten Vorgänge glauben, um durch sie be-
wegt und erschüttert zu werden. Und so haben schon Tausende von
Menschen getrauert und geweint über den imaginären Tod eines Lie-
bespaares, über ein Schicksal, das nie und nirgends auf der Welt
sich ereignet hat. Sie alle unterlagen dem Banne der Jllusion.

Jn entsprechender Weise wie beim Eindrucke eines aufgeführtcn
Schauspiels wird man auch beim Anblick von Werken der bildenden

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