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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 16 (2. Maiheft 1903)
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Ist Musik deutbar?
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0220

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der Erklärer gehen, ohne den sichern Boden zu verlieren? Zweitens:
Wie weit muß er gehen, wenn seine Arbeit überhaupt einen Sinn
haben soll?

Die Beantwortung der ersten Frage hat mit dem Geständnis
zu beginnen, daß die Grenzen des streng Beweisbaren in der unbe-
nannten Jnstrumentalkomposition ziemlich eng gesteckt sind. Sie
liegen — mit den Alten zu reden — innerhalb der sogenannten
Affekte, d. h. innerhalb der Charaktereigenschaften der Empfindungen,
Vorstellungen und Jdeen. Diese Affekte nun sind es, die sich in
Motiven, Themcn, in Tonfiguren überhaupt verkörpern, entweder
einfach oder aber in Verbindungen und Mischungen, die außerhalb
der Musik unmöglich sind. Die Aufgabe der Hermeneutik besteht nun
darin: die Affekte aus den Tönen zu lösen und das Gerippe ihrer
Entwicklung in Worten zu geben. Scheinbar ein schwaches Ergeb-
nis, ein Schattenspiel, tatsächlich aber eine wertvolle Leistung! Denn
wer von den Tönen und Tonformen zu den Affekten durchdringt,
erhebt den sinnlichen Genuß, die formale Arbeit zu einer geistigen
Tätigkeit, er ist gegen die Gefahren und die Schmach einer rein
physischen, animalischen Musikaufnahme geschützt. Hat er Phantasie
und den Grad eigner künstlerischer Begabung, den jede Beschäftigung
mit Kunst voraussetzt, so wird's nicht fehlen, daß sich ihm das Ge-
rippe der Affekte subjektiv belebt mit Gestalten und Ereignissen aus
der eignen Erinnerung und Erfahrung, aus den Welten der Poesie,
des Traums und der Ahnungen. Was Geist und Herz an Jnter-
pretationsmaterial ihr eigcn nennen, wird einem solchen Hörer wie im
Flug und blitzartig vor dem innern Auge vorüberziehen; vor wirk-
lichen Träumen bewahrt ihn die Aufmerksamkeit auf die Asfekte, vor
einer pathologischen Hingabe an die persönlich und augenblicklich tief
treffenden, besonders fesselnden, die Pflicht, ihre Uebergänge zu ver-
folgen, die Kunst und Logik des Komponisten zu kontrollieren. Wie
kommt es, wird er fragen, daß hier die Musik plötzlich aus dem
Majestätischen ins Sentimentale, dort aus der Ruhe in Erregung
fällt? Folgt eine Begründung dieser ungewöhnlichen Wendungen,
odcr sollen sie nur blenden? Wer den Affekten zu folgen versteht,
hört und genießt demnach kritisch, aber es ist keine Beckmessersche,
sondern eine Sokratischc Kritik, die er übt, es ist jene Untcrscheidung
von Licht und Schatten, von Vorzügen und Schwächen, ohne welche
die Bewunderung wcrtlos und leicht zur Selbsttäuschung odcr Heu-
chelei wird.

Da nun das Verständnis der Affekte lehrbar ist, unterliegt es
keinem Zweifel, daß der Erklärer oder der Hörer sich auf sicherm
Boden bewegt, wenn er in reinen Jnstrumentalkompositionen nach
dem Charakter aller einzelnen Stellen und der sich aus ihnen zu-
sammensetzenden größern Teile fragt.

Er darf die Affekte feststellen und das ist zugleich das Wenigste,
was er tun muß. Der Pflicht, bis hierher vorzudringen, können sich
nur diejenigen entziehen, für die Musik lediglich Musik ist, d. h. die
auf ihren Zusammenhang mit dem Geistesleben der Menschheit ver-
zichten. Dem »Daimon«, der ja bei allen Künsten mitwirkt, mag
für die Musik ein besonders starker Einfluß zugestanden, dem Kom-

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