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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 16 (2. Maiheft 1903)
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Ist Musik deutbar?
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0221

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ponisten, in dessen Jnnerm es mächtig klingt und singt, zunächst die
Frage nach den Stimmungen und Jdeen, die zum Tönen und Schaffen
treiben, erlassen werden. Aber ein Kunstwerk wird aus einer großen
Komposition niemals, wenn der Komponist nach den ersten Eingebungen
nicht über die Sphäre des Unbewußten hinausdringt zur Klarheit über
die Natur und die Ziele seiner Eingebungen. Darin, daß die Philo-
sophen diesen Kardinalpunkt immer wieder übersehen, zeigen sie ihre
Unbekanntschaft mit dem Wesen künstlerischen Schaffens. Zur Zeit
Hegels ließ sich das entschuldigen; heute aber, wo die geschichtliche
Forschung in Beethovenschen Skizzenbüchern, in Varianten Händels,
Bachs, Mozarts, Schuberts soviele Bilder aus der Werkstatt großer
Komponisten vorgelegt hat, nicht mehr. Nach dem Ausweis der Kunst-
geschichtc sührt die Berechnung und die planmäßige Erfindung viel
mehr zu außerordentlichen Nesultaten als die bloße Begeisterung.
Und ähnlich verhält sich's auch mit dem Hörer. Es ist laienhaft
überspannt, den Wert und dic Eigentümlichkeit musikalischer Ein-
drücke auf ihre Rätselhaftigkeit zurückzuführen und sich dabei zn be-
ruhigen. Eine solche Wirkung bezeugt keine Kennerschaft und keine
Begabung, sondern nur die unerläßlichste Vorstufe dazu: Empfäng-
lichkeit. Wer ernst und fähig ist, muß weiter kommen im Hören und
Erklären; auch die Erkenntnis und das Verständnis des Formenbaues
nach allen Richtungen ist nur eine Durchgangsstation. Die Formen
sind Mittel des Ausdrucks. Was ausgedrückt werven soll, ist etwas
Geistiges. Das muß, wenn der Komponist nicht Hokuspokus treibt,
unter den Formen und durch sie zum Vorschein kommen, und dem
Hörer mindestens in den Hauptzügen, das sind die Affekte, klar wer-
den. Die Ansicht, daß Musik nur musikalisch wirke, muß beseitigt,
die Freude an der »absoluten Musik« als eine ästhetische Unklarheit
erkannt werden. Jn dem Sinne eines lediglich musikalischen Jnhaltes
gibt es keine absolute Musik! Sie ist ein ebensolches Unding, wie
eine absolute Poesie, d. h. eine metrisierende und reimende Poesie
ohne Gedanken. Jn vielen Fällen wird auch in der unbenaunten
Jnstrumentalkomposition die Erklärungskunst über die Feststellung der
Affekte noch hinauskommen und imstande sein, die Objekte, auf die
fich die Affekte beziehen, nachzuweisen oder zu vermuten. Die Mittel
dazu bietet die Biographie und die Geschichte. Wenn wir aus diesen
Quellcn z. B. die Umstände, unter welchen Mozart seine letzten Sym-
Phonien in Us und 6, Beethoven seine L-äur-Symphonie geschrieben
hat, erfahren, fo ist es nicht bloß erlaubt, sondern es ist notwendig,
gewissenhaft zu untersuchen, ob zwischen den Affekten und den Lebens-
nachrichten Beziehungen bestehen. Auch Bekanntschaft mit dem Geist
und den Strömungen der Entstehnngszeit, mit ihren besonderen mu-
sikalischen Sitten und Bräuchen gibt häufig näheren Aufschluß über
den Jnhalt, über das Objekt von Jnstrumentalkompositionen.

Zuweilen wird dieser nähere Aufschluß wesentlich sein, in man-
chen Fällen nur anekdotischen Wert haben, wie das die Erfahrungen
mit Programmmusik belegen. Jmmer wird durch solchen näheren Auf-
schluß die Phantasie des Hörers auch beeinträchtigt. Während sie
ohne ihn sich zu dem freudigen Charakter einer Stelle nach persön-
lichem Belieben und augenblicklicher Disposition tausenderlei Anlässe

2. Maiheft t9oz
 
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