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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 16 (2. Maiheft 1903)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0248

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Mühe und Not beigebracht werden
mußte. Aber Frankreich ist das ästhe-
tische Gewissen — renommiert und
wiederkäut Maeterlinck, und Berlin ist
hingerisscn und klatscht Beifall. Mae-
terlinck dachte im Augenblick gar nicht
an die Tatsache, daß er selbst in Frank-
reich, d. h. in Paris, noch ausschließ-
lich als dichterische Kuriosität galt,
während er in Berlin, München, Wien
usw. von der literarischen Propaganda
der Jüngstdeutschen schon maßlos über-
schätzt und als neuester Weltdichter
erster Größe den Völkern angepriesen
wurde. Und auch an die andere Tat-
sache dachten Maeterlinck und seine
Tafel-Berliner nicht, daß Björnson
mitten in Paris kurz vorher den Herren
Franzosen öffentlich das Zeugnis aus-
gestellt, daß sie in künstlerischen Dingen
mit einer chinesischen Mauer um-
schlossen seien. Jbsen und Tolstoj
waren in ihren Hauptwerken längst
das Gemeingutdes gebildeten deutschen
Publikums, als in Frankreich die Be-
wunderung für ihre Größe sich erst
schüchtern in den engsten künstlerischen
und literarischen Kreisen zu äußern
wagte. Und wie steht Frankreich zu
Shakespere, wiestehteszuGoethe?
Es ist einfach zum lachen.

Nein, Spürsinn und Vorahnung
und heroische Schneidigkeit hat das
ästhetische Gewissen der Franzosen zu
keiner Zeit gezeigt. Erst wenn eine
Großtat neuen GeisteS bereits in der
weiten Welt siegreich geworden, dann
lärmt das französische Gewissen auf,
rennt offene Türen ein und greift nach
seinem alten dummen Gloire-Stempel,
um der längst von der übrigen Welt
anerkannten Größe das Pariser Siegel
aufzudrücken.

Summa: Jn den hohen Künsten
hat das ästhetische Gewissen stcts ver-
sagt, es wachte crst immer auf,
als die Sonne im Zenith stand — und
in den weniger hohen und niedrigen
Künsten, in der Operette.in der Frauen-
mode, im Bouleoardstück und im Boule-

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vardamüsement, da hat es wohl seine
Rolle gespielt, aber davon ift kein
Rühmens zu machen. Jn diesen Er-
lustierungs- und Modckünsten versteht
sich z. B. das ästhetische Gewissen der
Wiener so gut auf den Profit wie das
ästhetische Gewissen der Pariser...

Ziehen wir nun die Moral aus der
Geschichte: Es wird in den geistig für
vornehm geltenden Kreisen unheimlich
viel gelogen. Numero Eins. Numero
Zwei: Die berühmten Dichter schämen
sich nicht, als Lügenpeter durch die
Welt zu reisen. Numero Drei. Wenn
wir wirklich einmal eine Kultur und
eine Kunst als heiliges Völkergut haben,
dann werden wir auch wirklich ein
Gewissen haben und uns als vornehme
Menschen des Lügens schämen.'"

Das ist ein wenig „geböllert", wie
Conrad es liebt, treffen aber tut's doch.

Freilich, von praktischen Folgerungen
aus dem wahren Sachverhalt ist bei
uns noch wenig zu spüren. Nicht nur
daß unsrc Theater bis in die Hof-
bühnen hinein noch Warenauslagen
für die sonderbarsten Pariser Artikel
sind und, wie ihnen als mildernder
und unsern Bemittelten als erschwe-
render Umstand verzeichnet werden
muß, größtenteils doch wohl infolge
der starken Nachfrage. Nein, auch
unsere Tagespresse behandelt zum
großen Teil jede Pariser Erstaufführung
und jede Kunstausstellung an der
Seine als etwas auch für uns wich-
tiges, eine Menge von sog. deut-
schen Zeitungen hat noch heutigen
Tags für Zola, Maupassant und Prs-
vost weit mehr Raum frei, als für
Keller, Hebbel, Ludwig, Mörike, Raabe,
Storm u. s. w. zusammen, und wenn
ein Pariser Literat von seiner Geliebten
beinahe angeschossen worden wäre, so
werden wir nicht bloß in der „Frank-
furter Ztg." eingehend über das Vor-
her, Während und Hinterher dieses
weltbewegenden Augenblicks unter-
richtet. Welche Arbeit und welche Zeit
hat dazu gehört, unsern Großen nicht

Kunstwart
 
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