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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 17 (1. Juniheft 1903)
DOI Artikel:
Erdmann, Karl Otto: Die Illusion in der Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0271

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gödie das Traurige und Unangenehme ohne Murren hinunter, weil
wir dabei vermittelst des üsthetischen Scheins unser Gefühl narkoti-
sieren, uns das Bittere durch den Zucker der bewußten Selbsttäu-
schung versüßen", d. h. also die berühmte Schaukel- oder Pendel-
bewegung des Bewußtseins ausführen.

Aber wer bemißt wohl den Rang eines Kunstwerks uach solchen
Lustwerten und nicht nach der Stärke, Tiefe und Vedeutsamkeit der
vermittelten Gefühls- und Vorstellungsreihen? Was erfüllt und er-
greift unsre Seele, wenn wir den „König Lear" hören> oder den
„Faust" oder das „Nachtasyl" Gorkis? Der Jnhalt dieser Werke
oder der ununterbrochen durchs Hirn fahrende Gedanke, daß alle
diese Menschenschicksale nur Schein sind, daß es ein Mensch ist, der
sie uns vorspiegelt? Sollte man wirklich alle die gewaltigen, er-
schütternden und ergreifenden Eindrücke einer Tragödie als etwas
Unangenehmes nur grade mit in den Kauf nehmen, um an dem
prickelnden Spiel cinander widersprechender Vorstellungsreihen, um
an der Pendelbewegung des Bewußtseins ein Vergnügen zu em-
Pfinden?

Eine solche Ausfassung steht auch trotz allem, was Lange sagt, im
Widerspruch mit seinen Ausführungen über den Endzweck der Kunst, den
er durchaus zutreffend in eiuer Ergänzung zum Leben erblickt, „in
einer Steigerung und Vervollkommnung des Menschentums durch
Vertiefung der Anschauungen und Gefühle". Er nennt diese Antwort
auf die Frage nach den letzten Zwecken der Kunst: „Ergänzungstheo-
rie". Auch ich will zum Schluß diesen Punkt noch berühren und
gradezu von dem biologischen Werte der Jllusion reden.

Dieser Wert enthüllt sich am deutlichsten, wenn wir die höchste
Kunst und die stärkste Jllusion voraussetzen.

Unser Kulturleben mit seinen tausend Schutzvorrichtungen und
Hemmungen des natürlichen Daseinskampfes, mit seincr Eindämmung
und Regelung aller Leidenschaften, mit seiner relativen Friedfertig-
keit und Gefahrlosigkeit, bringt notwendig eine Verkümmerung gc-
wisser Seiten unseres Trieb- und Gefühlslebens mit sich, nicht zum
wenigsten in den Kreisen der Gebildeten. Nur Ausnahmemenschen
ist's vergönnt, ein Dasein im größeren Stile zu führeu, wahrhaft
reiche und bedeutende Schicksale zu erleben. Nnr Wenigen ist's ver-
gönnt — ich meine nicht in der Phantasie, in Nachempfin-
dung erdichteter Ereignisse, sondern aus der vollen Wirklich-
keit des eigenen Erlebcns heraus die höchsten Zustände der
Seele zu erzeugen, Erhabenes und Tragisches zu durchfühlen oder
die stärksten Erschütterungen und leideuschaftlichsten Regungen zu ver-
spüren. Unbedeutend sind die Tage, die man abhaspelt; in einför-
migen Kreisen verläuft die Berusstätigkeit, in einförmigen Kreisen
das häusliche Leben. Tüchtige Arbeit, redliches Streben, ehrenhaftes
Handeln geben wohl Besriedigung und guten Schlaf, aber sie lafsen
die Seele nicht erzittern. Tausend Saiten in der Brust, die wohl
klingen könnten, verrosten unberührt. Der normale und korrekte Be-
amte, der tüchtige Geschäftsmann, der gute Familienvater, sie alle
haben ihre Sorgen und Hoffnungen. Aber die Sorgen erstrecken sich
immer wieder hauptsächlich auf Gesundheit und des Lebens Notdurft

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