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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 17 (1. Juniheft 1903)
DOI Artikel:
Erdmann, Karl Otto: Die Illusion in der Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0272

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und Nahrung, die Hoffnungen auf Beförderung im Amt, auf das
Gedeihen der Geschäfte, auf die glücklichen Examina der Söhne und
die guten Heiraten der Töchter u. s. w. — immer sind es nur All-
tagsfreuden, Alltagsleiden, Alltagserlebnisse! Dazwischen allenfalls
gemeiner, niederdrückender, nagender Kummer. Aber nur selten ein
Sturm, der durch die Seele braust, eine große Leidenschaft etwa.
Und kommt ein Sturm einmal, dann ist er wieder unerwünscht, denn
man will ja Friede und Ruhe und behaglichen Lebensgenuß. Und
doch haben auch die Befriedigten und Genügsamen ab und zu Stun-
den der Sehnsucht nach bedeutenden Erlebnissen, nach Spannung und
Aufregung und dem Herzklopfen der Erwartung, nach beseligenden
oder weihevollen Hochgefühlen, nach Rausch und Leidenschaft oder
nach großen und ungewöhnlichen Stimmungen. Hier nun erweist
sich die Kunst als die eigentliche Erlöserin. Sie läßt, was die
Wirklichkeit versagt, in der Jllusion wenigstens schauen, sie vergönnt
uns die Gefühle, die wir als reale nicht zu erzeugen vermögen,
wenigstens als Scheingefühle zu durchleben. Auf den Aeckern, dic
im Leben brach liegen, treibt dann doch noch Blüte und Frucht. Und
so bildet ein reicheres Ausleben nach Seite der Gefühlssphäre, cine
Entfaltung sonst ungenützter Gemütskräste den biologischen Wert der
Jllusion.

Daher werden in der Regel diejenigen, die in Wirklichkeit
größeren Schwankungen des Gemütslebens ausgesetzt sind, und die
starke reale Gefühle erzeugen, den Kunstgenuß seltener erstreben.
Der Staatsmann, der auf der Menschheit Höhen wandelt, der spe-
kulierende Großkaufmann, alle Menschen der Tat, des Kampfes oder
auch nur des Sports, aber auch der Forscher, der von seinen Pro-
blemen durchschüttelt wird und an den Abgründen des Denkens wan-
delt: sie werden am ehesten glauben, der Kunst entraten zu können,
obgleich ja auch bei ihnen in begreiflicher Einseitigkeit zahllose
Regungen des Gefühlslebens verkümmern. Dagegen grade der
reicher Begabte, der keine rechte Betütigung seiner Kraft findet, der
Mann mit dcn aristokratischen Jnstinkten, der sich zu vornehm dünkt,
um in bescheidener Arbeit zu nützen, die unverstandene Frau, kurz
alle Schiffbrüchigen, alle mit verfehltem Beruf und ohne produktive
Anlage: sie werden mit einer stärkeren Jnbrunst den Kunstgenuß er-
streben, um ihr Leben wenigstens mit einem scheinbaren Jnhalt zu
erfüllen.

Für diese ist Kunst ein Ersatz des Lebens, wenn man will,
ein Surrogat. Und das möchte ich am wenigsten verhehlen, daß
in gewisser Hinstcht alle Scheingefühle nur Surrogatgefühle sind
und mancherlei Unvollkommenes und Nachteiliges in sich bergen. Man
könnte die Frage aufwerfen, inwieweit eine häufige Erzeugung illu-
sionärer Zustände uns verleitet und schult, nur in der schönen Empfin-
dung zu schwelgcn unter gleichzeitiger Lähmung aller Willensregungen
und ihrer kraftvollen Betätigung; inwieweit die ästhetischen Schein-
gefühle jenen anderen oft sehr starken und erhabenen Scheingefühlen
ähneln, die der Opium- oder Haschischrauch erzeugt und die man
schlechthin verdanrmt. Doch das ist eine Frage für sich, eine, so viel
ich weiß, wenig beachtete, abgründige Frage, die allen denen wenig

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