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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 17 (1. Juniheft 1903)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0281

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Unsere Sprache bildet nach ihren Namen neue Wörter; ihre Werke,
ihre Bilder sind in unseren Hausern, und jede Alltagsbegebenheit
ruft uns einen Zug aus ihrem Leben ins Gedächtnis.

Das Suchen nach großen Menschen ist der Traum des Jüng-
lings, ist die ernsteste Sorge des gereiften Mannes. Wir reisen in
fremde Länder, um ihre Werke zu sehen, um womöglich einen Anblick
ihrer Persönlichkcit zu erhaschen. Statt dessen werden wir mit an-
derem abgespeist, was uns als reine Zufälligkeit gleichgültig ist.
Man rühmt uns den Engländer als praktisch, den Deutschen als
gastfreundlich; in Valencia sei das Klima köstlich und in den Bergen
am Sacramentofluß liege das Gold umher, datz man sich nur zu
bücken brauche, um es aufzuheben. Ja — aber ich reise nicht, um
bequeme, reiche und gastfreie Leute oder einen klaren Himmel oder
Goldbarren zu finden, die des Besitzens nicht wert sind. Aber gäbe
es eine Magnetnadel, die nach Gegenden und Häusern wiese, in
denen die innerlich Reichen und Gewaltigen wohnen — ja, die
würde ich mir um den Preis aller meiner Habe kaufen und würde
mich mit ihr desselbigen Tagcs noch auf dcn Weg machen!

Wir schätzen das ganze Menschengeschlecht nur nach diesen
Grotzen. Die Wertschätzung, die wir dcm Ersinder der Eisenbahn
zollen, kommt seincm Wohnort und allen seinen Mitbürgern zu
gute. Aber riesige Ansammlungen von Nichts-als-Menschen sind ekel-
haft wic überreifcr Käse, wie Haufen von Ameiscn oder Flöhen —
je mehr, desto schlimmer.

Unsere Religion ist die liebevolle Verchrung diescr Schutzheiligen.
Die Götter der Sage verkörpern die leuchtenden Eigenschaften grotzer
Menschen. Wir formen alle unsere Gefätze nach eincm Vorbild.
Unsere gewaltigen Religivnssysteme: Judentum, Christentum, Bud-
dhismus, Mohammedanismus — sie sind nichts weiter, als die natur-
notwendige Betcitigung des Menschengeistes. Der Geschichtsforscher
glcicht einem Mann, der in einem Kaufhaus Tücher oder Teppiche
ersteht. Er bildet sich ein, er habe etwas ganz Nenes bekommen.
Geht er aber in die Fabrik, so entdeckt er, datz sein Zeugmuster die-
selben Schnörkel und Rosetten wiederholt, die wir bereits auf den
Jnnenwänden der Pyramiden von Theben finden. Unser Gottes-
begriff ist nur die geläuterte Darstellung des menschlichen Geistes.
Jn seiner Kunst, in seinem Schaffen, in seinem Denken kommt der
Mensch niemals über den Menschen hinaus. Er glaubt, die großen
Elcmentarstoffe seien aus seinen Gedanken entstanden. Und unsere
Philosophie findet eine einzige Urkraft, auf deren Vereinigung oder
Verteilung alles beruht.

Wenn wir nunmehr untersuchen, was andere uns nützen können,
so wollen wir uns vor allem vor der Gefahr moderncr Forschung
hüten: wir müssen recht niedrig beginnen. Wir dürfen nicht behaupten,
daß dem Fortpflanzungstrieb jenes Gefühl fehle, das wir Liebe
nennen; wir dürfen nicht das körperliche Dasein unserer Mitgeschöpfe
übcrhaupt in Abrede stellen. Denn wohin könnte uns das sühren!
Jn unserer Fcihigkeit, Gemeinschaften zu bildcn, liegt unsere Stärke.
Jn unscrer Liebe zum Mitmenschen besitzen wir einen unschätzbareu
Vorzug. Jch kann durch einen anderen tun, was ich nicht selber

t- Iuniheft isor

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