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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 19 (1. Juliheft 1903)
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Münzer, G.: Uebungen im Musikhören, [1]: das Volkslied
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0389

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und Unsterblichkeit strebte, nichts übrig blieb, nls cin paar Volks-
lieder, die man singt, ohne des Komponisten zu gedenken. Es gab
Augenblickgenies nnter den Musikern wie unter den Dilettanten, sie
wurden die oft vcrgessencn Schöpfer solcker dnrch die Jahrhunderte
wandernden, von Tausenden und Abertausenden gesungenen Lieder.

Wir fanden einen Grund für die Faszlichkeit jener Melodieen in
ihrem Bau. Das Ohr empfand Vor- und Nachsatz als zwei sich cnt-
sprechende, gleichartige Teile, so wie das Auge zwei Hälften einer
symmctrischen Figur als Ganzes auffaßt; es fand überdies, daß cine
Grundidee, ein Motiv, durch die ganze Melodie fortklang. Die
Melodieen erwiesen sich als logische Fortentwicklung eines und des-
selben musikalischen Keimes dcssclben „Motives". Jm ersteu Liede
war das „Motiv" zugleich das Metrum, im zweiteu könnte man das
Metrum

noch in die Motive a und b zerlegen.

Allein wie für das Auge, das künstlerisch sehen gelernt hat,
die absolute Gleichmäßigkeit, die starre Wiedcrholung derselben
Figur leicht crmüdend und einförmig wirkt, wie es kleine Abweich-
ungeu mit Lust empfindet, so nimmt auch das Ohr schließlich nicht
jene einfachsten Melodieen, wie sie eben betrachtet wurden, als die
schönsten, sondern diejenigen, welche bei aller Regelmäßigkeit doch
auch eine gewisse Freiheit zeigen.

Betrachten wir die schwungvolle Melodie zu: „Stimmt an mit
hellcm hohen Klang" des 1869 verstorbencn ehemaligen Braunschweiger
Hofkapellmeisters Methfessel. Sie enthält neun Takte. Der Vorder-
satz dieser neuntaktigen Periode ist vier, der Nachsatz fünf Takte lang.
Die Verlängerung des letzteren um einen Takt ist dadurch hervor-
gerufen, daß der Komponist die Melodie zum Schluß wuchtig aus-
tönen läßt, anstatt im achten Takte (b) kurz zu schließen.





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Es ist leicht zu fühlen, daß diescr vcrlängcrte Schluß schöncr ist, als
der bei b angedeutete im achtcn Takte. Um cin Bild zu brauchcn. Jene
gcnau achttaktigcn Perioden glcichcn etwa cinem achtteiligen Flieder-
blättchcn. Durch die Verlängcrung kam ein Blättchen an der Spitze
hinzu. Das Ganze erscheint uns vollkommcncr. Anch dic Gcstal-
tung dieser Melodie im Einzelnen ist freier als die der früheren. Sie
ist wohl ebenfalls aus einem Grundmotiv entwickelt; — man bcachtc
besonders das sogcnannte „rhythmische Motiv" ^ ^ - das hin-

durchgeht, — allein die Ausführung des Grundgedankens weicht von

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